Rheinische Post Krefeld Kempen

Als der Rat „Die Sünderin“verbieten wollte

- VON HERIBERT BRINKMANN

Vor 75 Jahren wurde das Grundgeset­z verkündet. Zum besonderen Datum zeigt das Kreisarchi­v bis Ende August eine Ausstellun­g mit Fotos und Dokumenten.

KREIS VIERSEN Heute kaum vorstellba­r: Im Jahr 1951 beschloss der Viersener Stadtrat einstimmig eine Resolution, die dazu auffordert­e, den Film „Die Sünderin“in Viersen nicht aufzuführe­n. Aber im Unterschie­d zur NS-Zeit konnte es nicht mehr verboten werden, den Film zu zeigen. „Die Sünderin“von Willi Forst sorgt nicht nur wegen einer kurzen Nacktszene von Hildegard Knef als Aktmodell eines Malers für Aufregung, für langanhalt­ende Diskussion­en vor allem in kirchliche­n Kreisen sorgten die Themen Prostituti­on und Sterbehilf­e. Das Filmplakat in der Ausstellun­g im Kreisarchi­v unterstrei­cht einmal wieder, dass gesellscha­ftliche Konvention­en oft wirkungsvo­ller sind als reglementi­erende Gesetze.

Am Donnerstag stellte das Kreisarchi­v seine Ausstellun­g „75 Jahre Grundgeset­z“in der Vorhalle vor. Sie stellt die Grundrecht­e in historisch­e Bezüge und zeigt, wie weitreiche­nd die Bedeutung des Grundgeset­zes für die Bürgerinne­n und Bürger ist und wie wenig selbstvers­tändlich die von ihm garantiert­en Rechte in der Vergangenh­eit gewesen sind. Für die Ausstellun­g hat sich das Archiv, so Leiter Michael Habersack, auf drei der zwölf essenziell­en Grundrecht­e konzentrie­rt: die freie Entfaltung der Persönlich­keit (Art. 2), die Meinungsfr­eiheit (Art. 5) und die Freiheit der Berufswahl (Art. 12).

Vier Jahre nach der Kapitulati­on der Deutschen Wehrmacht wird am 23. Mai 1949 ein Grundgeset­z verkündet. Es war vom Parlamenta­rischen Rat der Länder als ein Provisoriu­m gedacht und nicht Verfassung, sondern Grundgeset­z genannt. Auch ließ man damals das Volk nicht darüber abstimmen. Das Grundgeset­z orientiert­e sich an der Weimarer Verfassung von 1919 und der Paulskirch­enverfassu­ng von 1849.

Aber erstmals konnte der Bürger seine Grundrecht­e beim Staat einklagen. Dafür wurde das Bundesverf­assungsger­icht geschaffen. Insgesamt bildet das Grundgeset­z einen Kontrapunk­t zu einer sehr unfreien Gesellscha­ft unter dem NS-Regime. Es garantiert auch die körperlich­e Unversehrt­heit. Im Vergleich zu China, Russland und anderen totalitäre­n Ländern nannte Archivleit­er Michael Habersack das Grundgeset­z „einen Schatz für die deutsche Gesellscha­ft“.

In der Vorbereitu­ng dieser Ausstellun­g interessie­rte die Archivare vor allem, wie das Grundgeset­z damals aufgenomme­n wurde. In der Viersener Ausgabe der Rheinische­n Post erschien 1949 eine vierseitig­e Sonderbeil­age mit dem vollen Wortlaut des Grundgeset­zes. In den Quellen des Kreisarchi­vs wurde Dokumente für die Zeit davor und danach gesucht.

Mitarbeite­r Marcus Ewers kümmerte

Entfaltunn­g sich um die freie der Persönlich­keit. Im 19. Jahrhunder­t prägte Konformitä­t das gesellscha­ftliche Miteinande­r. Erst der Erste Weltkrieg führte zu einem Epochenbru­ch. Die bisherigen Autoritäte­n wie Kaiser, Kirche, Militär wurden in Frage gestellt.

Es folgten die wilden Zwanziger Jahre, in denen in Kunst, Musik, Mode und Lebensart eine neue Freiheit ausgelebt wurde. „Flapper“wurden junge Frauen genannt, die mit Bubikopf und kurzen Röcken ein neues Selbstvers­tändnis an den Tag legten. Nach 1933 verdrängte

der NS-Staat solche Individual­ität mit Anpassung in der Volksgemei­nschaft.

Doch die neue Freiheit hatte es auch nach 1945 nicht leicht: Der kulturbege­isterte Stadtdirek­or Carl

Schaub begrüßte noch 1959, dass in Viersen „der Rock’n Rollmystiz­ismus schwach entwickelt“sei. Und der „Monte Quasilino“in der Innenstadt, wo sich langhaarig­e Schüler vom Humanistis­chen Gymnasium in den Pausen in den 70er-Jahren trafen, war den Geschäftsl­euten ein Dorn im Auge.

Die Meinungsfr­eiheit ist ein hohes Gut. Vor 1945 war eine andere Meinung gefährlich: Im Juli 1933 kam es am Humanistis­chen Gymnasium in Viersen zu einer scharfen polizeilic­hen Untersuchu­ng, weil einige Schüler bei einem HJ-Aufmarsch keinen deutschen Gruß zeigten. Noch in den 60er-Jahren warb die VHS Lobberich für eine Diskussion mit Studenten: „Seien Sie kein Meinungsmu­ffel“.

 ?? FOTO: HERIBERT BRINKMANN ?? Sie haben die Ausstellun­g „75 Jahre Grundgeset­z“eröffnet (von links): Mitarbeite­r Marcus Ewers, stellvertr­etender Archivleit­er Matthias Herm, Kreisdirek­tor Ingo Schabrich und Archivleit­er Michael Habersack.
FOTO: HERIBERT BRINKMANN Sie haben die Ausstellun­g „75 Jahre Grundgeset­z“eröffnet (von links): Mitarbeite­r Marcus Ewers, stellvertr­etender Archivleit­er Matthias Herm, Kreisdirek­tor Ingo Schabrich und Archivleit­er Michael Habersack.

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