Rheinische Post Langenfeld

Der Pollenflug beginnt jetzt richtig: Worauf Allergiker achten müssen.

-

Seite A 6

Sein erster Roman sollte vom Volk der Kaschuben handeln. Und da dem ganz jungen Grass das Schicksal dieser Menschen im heutigen Polen naheging, schrieb er drauflos mit grimmiger Entschloss­enheit. So wurde gleich zu Beginn derart viel geköpft, gepfählt und gevierteil­t, dass schon im ersten Kapitel alle Helden tot waren. Eine putzige Episode aus seiner Autobiogra­fie „Beim Häuten der Zwiebel“. Eine große Debatte löste das Buch 2006 aber wegen einer anderen Begebenhei­t aus. Das war Grass’ Mitgliedsc­haft in der WaffenSS; die Geschichte von der Verführung eines damals 17-Jährigen, der „gläubig bis zum Schluss“geblieben war und dem „die doppelte Rune am Uniformkra­gen nicht anstößig“gewesen ist. Zumal von der Waffen-SS, so Grass im Buch, „etwas Europäisch­es“ausgegange­n sei. Die späte Beichte – Grass hätte die Formulieru­ng zurückgewi­esen – wurde zu einer der letzten großen Debatten mit ihm und um ihn. Gestern ist der deutsche Literaturn­obelpreist­räger im Alter von 87 Jahren in einer Lübecker Klinik an einer Infektion gestorben. Was bleibt, ist sein Jahrhunder­troman – also die „Blechtromm­el“. Weltlitera­tur aus Deutschlan­d, die 1959 den kleinwüchs­igen Schelmen Oskar Matzerath auftreten ließ. Der trommelte deutsche Geschichte herbei, trommelte so laut von deutscher Schuld und deutscher Schuldbewä­ltigung, dass den Lesern weltweit die Ohren dröhnten. Doch daneben wird immer auch jener Grass in Erinnerung bleiben, der Trommler in eigener Sache gewesen ist. In den 60er und frühen 70er Jahren zog Grass für seine „Es-Pe-De“in den Wahlkampf und für seinen Kanzlerkan­didaten Willy Brandt. Im Nachhinein lässt sich leicht darüber spekuliere­n, ob dieses Engagement damals bereits eine Aufarbeitu­ng persönlich­er Schuld gewesen sein könnte, mit Sätzen, die später gegen ihn verwendet wurden. 21 Jahre vor seinem eigenen Waffen-SSGeständn­is attackiert­e er Bundeskanz­ler Helmut Kohl, weil dieser mit US-Präsident Ronald Reagan den Bitburger Soldatenfr­iedhof besuchte. Anlass seiner Kritik war, dass dort auch junge Waffen-SSGefallen­e liegen. Es hätten Kameraden von Grass sein können. Grass reagierte auf alle Kritik zumeist mit Gegenangri­ff und Rollentaus­ch: Er machte sich zum Opfer, vor allem der Medien. Grass verstand nicht, dass die Kritik weniger dem verführten 17-Jährigen galt als dem alten Mann, der seine Vergangenh­eit so viele Jahre vertuscht hatte und dennoch als moralische Instanz aufgetrete­n war. An Günter Grass, dem politische­n Streiter, scheiden sich die Geister. An dem Schriftste­ller – vor allem dem Schöpfer der „Blechtromm­el“– finden sie wieder zueinander.

 ?? FOTO: LAIF ??
FOTO: LAIF
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany