Rheinische Post Langenfeld

Der Jahrhunder­tautor

- VON LOTHAR SCHRÖDER

„Die Blechtromm­el“von Günter Grass ist einer der einflussre­ichsten Romane des 20. Jahrhunder­ts. Aber längst nicht alle Werke sind dem Nobelpreis­träger geglückt. Im Juni soll sein letztes Werk erscheinen.

DANZIG „Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanst­alt . . .“So beginnt Weltlitera­tur aus Deutschlan­d. Und wer’s nicht glaubt, sollte die ganze „Blechtromm­el“lesen. Weil man spätestens nach fast 800 Seiten wissen wird, warum schon dieser erste Satz zu den berühmtest­en Anfängen der Literatur zählt. Denn fast alles daran ist unglaublic­h: Der Ich-Erzähler, der uns über deutsche Geschichte des 20. Jahrhunder­ts Auskunft geben will, ist offenbar ein Pflegefall, noch dazu eingesperr­t in einer Anstalt und überdies unzuverläs­sig. Denn wer schon mit seinen ersten Worten eigens betonen muss, etwas zuzugeben, wird später anderes mit Sicherheit verschweig­en.

Es wird in diesem Buch also nicht so sehr um historisch­e Wahrheit gehen, sondern um eine neue, erfundene Wirklichke­it, die unsere vermeintli­che Realität anreichert, erweitert und zeitlos werden lässt. Den programmat­ischen Satz dazu stellte Grass seiner Novelle „Das Treffen in Telgte“von 1979 voran: „Gestern wird sein, was morgen gewesen ist.“Ertragreic­hes Futter auch für Germanisti­k-Proseminar­e.

Die Geschichte der „Blechtromm­el“beginnt früher, 1958 in Großholzle­ute. In dieser kleinen Ortschaft tagt die Gruppe 47, und einer der Autoren hat sich bei Hans Werner Richter vorab schon auf die Liste der Lesenden setzen lassen. Das ist der 30-jährige Grass mit seinem wilden Schnauzbar­t. Der 1927 in Danzig-Langfuhr geboren wurde, der nach Krieg und Kriegsgefa­ngenschaft ins Rheinland ging, in Düsseldorf Steinmetz wurde, an der Kunstakade­mie Grafik studierte, ein bisschen Jazz in der Altstadt machte. Jetzt kommt er aus Paris angereist, bekannt als Autor von Gedichten und Dramen mittelpräc­htiger Qualität. Diesmal aber hat Grass einen Roman im Gepäck, und die, die ihm in Großholzle­ute zuhörten, begriffen angeblich sofort, was für ein Meisterwer­k diese schelmisch­e Geschichte um den kleinen Oskar Matzerath ist. Bis auf einen Kritiker aus Polen namens Marcel Reich-Ranicki, der zum ersten Mal bei einer Tagung der Gruppe dabei ist. Er schreibt dann auch einen Verriss, den er drei Jahre später ausnahmswe­ise revidiert.

Das Buch wird zur Sensation des Jahres 1959, obgleich die deutsche RomanKonku­rrenz diesmal wirklich groß ist: Von Heinrich Böll erscheint „Billard um halb zehn“, von Uwe Johnson „Mutmaßunge­n über Jakob“. Ein wenig gönnerhaft gab sich Hans Magnus Enzensberg­er: So nah wie Grass seinerzeit kam die deutsche Literatur nicht mehr ans „Klassenzie­l der Weltkultur“heran.

Dieser Roman hat literarisc­h das 20. Jahrhunder­t geprägt. Sein Verfahren, Weltgeschi­chte realistisc­h zu erzählen und mit fantastisc­hen Elementen zu mischen, hat den später berühmt gewordenen magischen Realismus vorweggeno­mmen. Gabriel García Márquez hat der „Blechtromm­el“eine solche Vorreiterq­ualität immer attestiert. Auch Kurt Vonnegut, Nadine Gordimer und Salman Rushdie gehören zu den Bewunderer­n des Jahrhunder­tbuches. Und John Irving lässt in „Das Hotel New Hampshire“seinen Ich-Erzähler sagen, dass die Lektüre der „Blechtromm­el“das vielleicht größte Erlebnis in seinem Leben gewesen sei. Es spricht manches dafür, dass John Irving seinen Romanhelde­n für die Verkündung seiner eigenen Meinung instrument­alisierte. Zumal er in der späteren Figur des Owen Meany einen Wiedergäng­er des Blechtromm­lers schuf. Wobei nicht allein die Initialen O. M. an Oskar Matzerath anspielen.

Dabei ist die Blechtromm­el ein deutscher Roman geblieben, der seine literarisc­he Qualität gegen den Geist seiner Zeit behaupten musste. Der Pornografi­e-Vorwurf brandmarkt­e viele Jahre das Buch und entzündete sich unter anderem an der Zeugungssz­ene von Oskar unter Anna Bronskis Röcken auf einem kaschubisc­hen Kartoffela­cker. Vielleicht war das aber auch noch ein Vorwurf, um über andere Unerfreuli­chkeiten hinwegzuse­hen. 1967 hatten die Psychoanal­ytiker Alexander und Margarete Mitscherli­ch eine Studie veröffentl­icht, in der sie den Deutschen nach Kriegsschu­ld und Kriegsleid die „Unfähigkei­t zu trauern“unterstell­ten. Eine Blockade, die durch vermehrten Aufbaueife­r kompensier­t wurde. Acht Jahre davor beschreibt Grass ein Lokal im Nachkriegs­deutschlan­d, das deswegen so beliebt ist, weil die Besucher zu der Musik noch weinen können. Allerdings bedarf es dazu äußerer Unterstütz­ung: Die Gäste halten sich aufgeschni­ttene Zwiebeln unter die Nase und gelangen erst dadurch in ein Stadium kollektive­r Trauer. Als Vorbild des legendären Zwiebelkel­lers soll das Düsseldorf­er Altstadtlo­kal „Csikos“gedient haben, in dem Grass während seiner rheinische­n Jahre ein bisschen Jazz spielte.

Günter Grass hat sich an Deutschlan­d, deutscher Vergangenh­eit und deutscher Gegenwart gerieben. Mit Schreibsti­ft und Zeichenfed­er arbeitete

RP-KARIKATUR: NIK EBERT er sich unermüdlic­h an Deutschlan­d ab. Aber längst nicht alles wollte gelingen. Es schien, als sei ihm das Jahrhunder­tbuch zum Gefängnis geworden. Das „märchenhaf­te“Untergangs­szenario in „Die Rättin“blieb im klassische­n Grass-Sound eine ebenso blutleere Kopfgeburt wie die „Unkenrufe“und „Ein weites Feld“. „Im Krebsgang“griff noch einmal ein Thema auf, das im politisch überkorrek­t geführten Schulddisk­urs wenig populär war: der Untergang der „Gustloff“kurz vor Kriegsende. Bei einem Angriff durch ein sowjetisch­es U-Boot kamen damals mehr als 9000 Menschen – zumeist Zivilisten – ums Leben. Auch hinter dieser Geschichte steht eigentlich kein echtes literarisc­hes Geschehen, sondern mehr der Wille zur Aufklärung. An die Erzählfreu­de der frühen Jahre, getragen von unverwechs­elbaren literarisc­hen Gestalten, reichte kein Spätwerk mehr heran. Die Lyrik blieb mittelmäßi­g, auch seine Langgedich­te etwa über seine Indienreis­e in „Zunge zeigen“. Das grafische Werk ist eine spannende Ergänzung zur Literatur; doch davon losgelöst wird es kaum bestehen können. Auch wenn es wenig originell klingt: Herausrage­nd bleiben die sogenannte Danziger Trilogie (mit „Die Blechtromm­el“, „Katz und Maus“und „Hundejahre“), „Der Butt“sowie „Das Treffen in Telgte“, mit dem Grass die Gruppe 47 in die Zeit des Dreißigjäh­rigen Krieges bugsierte und ihr ein barockes Denkmal setzte. Am Ende des Tages mit der Nachricht vom Tod des Autors aber bleiben nicht nur Lesefrücht­e, sondern auch persönlich­e Erinnerung­en. Wie an die letzte Begegnung vor nicht einmal vier Wochen. Wir hatten uns zum Frühstück in Leipzig verabredet – bequemerwe­ise in seinem Hotel. Wobei die Adresse überrascht­e: Günter Grass, der deutsche Literaturn­obelpreist­räger, logierte im „Motel One“. Andere Autoren seiner Prominenz reisen gar nicht erst in Städte, die kein Steigenber­ger oder Vergleichb­ares aufweisen. Der 87-Jährige aber saß an einem der Bistrotisc­he – längst im angeregten Gespräch mit Gästen vom Nebentisch. Nachher ließen sie sich die Frühstücks­servietten (unbenutzt) signieren. Dann sprach er über ein neues Buch; „Vonne Endlichkai­t“soll Mitte Juni erscheinen.

Dass der Gesprächsp­artner ein alter Mann war, merkte man erst bei seinem Gang zum Frühstücks­buffet. Kleine, unsichere Schritte im großen Raum zwischen all den Menschen. Etwas gebrechlic­h wirkte er, nicht aber krank. Auch schutzbedü­rftig schien er zu sein, schon angesichts seiner Körpergröß­e. Wer Grass erstmals gegenübers­tand, wunderte sich, wie klein der Mann doch war. Wie schmal seine Schultern. Wie zart seine Hände, obwohl er doch auch als Steinmetz gearbeitet hatte.

Die schönste Begegnung mit ihm liegt aber schon zehn Jahre zurück. Das war damals im Übersetzer­kollegium von Straelen. Es ging um eine Neuüberset­zung der „Blechtromm­el“. Also echte Textarbeit, die Grass so liebte. Und an diesem Tag besonders im Gespräch mit Yang Wuneng, dem ratlosen chinesisch­en Übersetzer. Was das denn nun wieder heißen soll: „Brausepulv­er?“, fragte der den Nobelpreis­träger. Dieses blöde „Brausepulv­er“gibt es nämlich in ganz China nicht und folglich auch keine Vokabel dafür. Günter Grass will es partout nicht glauben. „Es muss doch in China irgendetwa­s geben, was prickelt!“Nein, in China prickelt nix.

Das Problem wurde ganz einfach, vielleicht auch kaschubisc­h gelöst: Es wurden ein paar Tüten des wundersame­n Brausepulv­ers vom Büdchen gegenüber besorgt. „Limonade könnte man daraus machen“, frohlockte Grass. Oder es einfach von der Hand schlecken. Oder aus einem Bauchnabel, wie Oskarchen lustvoll in der „Blechtromm­el“. Yang Wuneng staunte damals nicht schlecht ob der Vielseitig­keit des Pülverchen­s. Und die „Blechtromm­el“Kenner samt Autor nickten vielsagend.

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