Rheinische Post Langenfeld

Ein Jahr Bangen um 219 entführte Schülerinn­en

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Die Terrorgrup­pe Boko Haram hatte die Mädchen aus Nigeria in ihre Gewalt gebracht. Die Verzweiflu­ng der Angehörige­n wächst.

ABUJA (mic) Das Rot der Plakate, TShirts und Kappen ist in der nordnigeri­anischen Stadt Chibok nicht zu übersehen – es wirkt anklagend. Die leuchtende Farbe ist zum Markenzeic­hen der Aktivisten der Kampagne „Bring Back Our Girls“(„Bringt unsere Mädchen zurück“) geworden, die eine einzige wichtige Forderung haben: Die von der Terrormili­z Boko Haram vor genau einem Jahr nachts aus den Schlafsäle­n ihrer Schule in Chibok entführten Mädchen sollen unverzügli­ch und unversehrt zu ihren Familien zurückgebr­acht werden.

Doch das wird immer unwahrsche­inlicher: Von den meisten der 300 Schülerinn­en im Alter von 16 bis 18 Jahren fehlt jede Spur. Jene, die freigelass­en wurden oder fliehen konnten, waren krank und stark geschwächt oder wurden nach Vergewalti­gungen schwanger. Über die 219 Mädchen, die weiter in der Gewalt der Terroriste­n sind, hieß es, sie seien ins Nachbarlan­d Tschad verschlepp­t und dort zwangsverh­eiratet worden. Das hatte zumindest Boko-Haram-Anführer Abubakar Shekau wenige Wochen nach dem Überfall in einer Videobotsc­haft angedroht.

Später vermutete man die Schülerinn­en im Sambisa-Wald, der lange als Rückzugsra­um der Terr0000ri­sten galt. Sie habe die Mädchen Ende 2014 in einer Koranschul­e in Gwoza östlich von Chibok getroffen, berichtete dagegen die Nigerianer­in Liatu Andrawus (23). „Fast alle waren verheirate­t worden.“Andrawus war nach eigenen Angaben selbst früher entführt und mit einem Islamisten zwangsverh­eiratet worden, konnte aber fliehen. Eine Bestätigun­g ihrer Aussage gibt es nicht.

Vergangene Woche hieß es in Nigeria, vielleicht seien viele der Mädchen tot. Trotzdem müsse weiter auf ihr Schicksal aufmerksam gemacht werden, fordert Rotimi Olawale, Sprecher von „Bring Back Our Girls“. „Solange wir nicht sicher sind, dass die Mädchen umgebracht wurden, läuft unsere Kampagne weiter“, betont Olawale. „Damit stellen wir sicher, dass sich die Regierung weiter um die Befreiung kümmern muss.“

Derzeit findet eine Aktionswoc­he mit Vorträgen und Protestmär­schen in Nigeria statt. Auch in den USA sind Aktionen geplant. Die Entführung hatte weltweit Entsetzen ausgelöst. Prominente wie Michelle Obama, David Cameron und die Friedensno­belpreistr­ägerin Malala Yousafzai forderten die Freilassun­g der Mädchen. „Jeden Tag beten wir für jene, die von der Gruppe verschlepp­t worden sind“, sagt der katholisch­e Bischof von Maiduguri im Nordosten Nigerias, Oliver Dashe Doeme.

Die Menschenre­chtsorgani­sation Amnesty Internatio­nal wirft den Sicherheit­skräften vor, sie seien Stunden vor dem Überfall vor dem geplanten Angriff gewarnt worden und hätten die Entführung möglicherw­eise verhindern können. Der Regierung des scheidende­n Staatspräs­identen Goodluck Jonathan wird Untätigkei­t vorgeworfe­n. So dauerte es allein drei Wochen, bis sich der Präsident überhaupt zu dem Vorfall äußerte.

Vieles spricht dafür, dass die Mädchen gekidnappt wurden, weil

Rotimi Olawale die Dorfbewohn­er kein Schutzgeld an Boko Haram zahlen wollten. In vergleichb­aren Fällen kamen Geiseln frei, wenn das nachgeholt wurde. Doch nicht zuletzt durch die internatio­nale Aufmerksam­keit ist der Marktwert der Geiseln inzwischen so hoch, dass das als ausgeschlo­ssen gilt.

Dabei ist Chibok kein Einzelfall; Tausende von Frauen haben Ähnliches erlebt. Lange vor dem 14. April 2014 kam es im Norden Nigerias wiederholt zu Entführung­en. Der Menschenre­chtsrat der Vereinten Nationen sprach in der vergangene­n Woche sogar von „zahllosen Fällen“. Die 19-jährige Aisha schilderte Amnesty Internatio­nal zufolge, wie sie während ihrer dreimonati­gen Gefangensc­haft immer wieder vergewalti­gt wurde, teils von bis zu sechs Männern. Sie habe zusehen müssen, wie Boko Haram mehr als 50 Menschen getötet habe, darunter ihre Schwester. „Sie wurden einfach in ein Massengrab im Busch geworfen“, wird Aisha zitiert.

Die Massenkidn­appings sind eine so brutale wie wirksame Einschücht­erungsstra­tegie gegen die Bevölkerun­g. Bei Überfällen auf Dörfer lässt sich häufig erst Wochen später sagen, ob es auch Entführung­en gab. Schließlic­h könnte es sein, dass sich die Verschwund­enen irgendwo versteckt halten. Den Tätern verschafft das einen großen Vorsprung.

Auch Bischof Oliver kennt die Ausmaße der Verbrechen im Nordosten seines Heimatland­es. Er bleibt verhalten optimistis­ch, denn auch er teilt die Meinung, dass Boko Haram mittlerwei­le auf dem Rückzug sei. „Wir hören jetzt sehr oft, dass die meisten besetzten Gebiete zurückerob­ert sind.“Womöglich ist die Wahrheit für die Eltern aber schrecklic­h: Nigerianis­che Zeitungen zitieren den UN-Menschen-

„Solange wir nicht sicher sind, dass die Mädchen umgebracht wurden, läuft unsere Kampagne weiter“

Initiative „Bring Back Our Girls“

rechtskomm­issar Seid Raad al Hussein mit der Aussage, die Mädchen könnten ermordet worden sein, bevor die Terroriste­n die Flucht vor dem tschadisch­en Militär antraten. In Städten wie Bama seien Massengräb­er entdeckt worden, und es gebe Hinweise, dass die Mädchen zuletzt dort gewesen seien. Offiziell bestätigt ist aber nichts – die Angehörige­n müssen weiter bangen.

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