Vierlinge mit 65 – ein moralisches Wagnis
DÜSSELDORF Das erste Retortenbaby ist heute 36 Jahre alt – und seine Geburt hat die menschliche Fortpflanzung revolutioniert. Da mag der Vatikan wettern, wie er will, längst ist die künstliche Befruchtung Alltag geworden. Reproduktionsmediziner schenken im Laufe ihrer ärztlichen Tätigkeit mehreren Tausend Menschen das Leben. Und auch das Alter spielt zunehmend eine geringere Rolle. Eine 67-jährige Spanierin brachte Zwillinge auf die Welt, eine Inderin gebar sogar mit 70 Jahren noch eine Tochter.
Der Fall der 65-jährigen alleinerziehenden Grundschullehrerin aus Berlin, die jetzt Vierlinge bekommt, sprengt jedoch den üblichen Rahmen. Gleich in mehrfacher Hinsicht gilt ihr Handeln als problematisch, sieht man das Kindeswohl als Ziel der elterlichen Bemühungen an und nicht den egoistischen Kinderwunsch. Zunächst ist das für eine Mutter hohe Alter – das Gleiche gilt auch für Väter – nicht eben förderlich für die Erziehung von Kindern. Die Berlinerin gilt zwar als robust und erfreut sich angeblich einer guten Gesundheit. Aber für die Psychologie von Kindern sind junge Eltern – das zeigt die praktische Erfahrung – besser als ältere. Denn Erziehung ist ein Knochenjob, harte Konflikte sind auszuhalten. Und Kinder messen sich lieber mit jungen Eltern, als dass sie gezwungen sind, auf körperliche und mentale Schwächen älterer Menschen Rücksicht zu nehmen. Die Konflikte um Ruhe auf Spielplätzen oder in Wohnhäusern geben unzählige Beispiele. Außerdem nimmt man dem Kind die Chance, sich an den Eltern abzuarbeiten.
Die Pädagogin, die jetzt mit 65 an der Grundschule aufhören will, wird 83 Jahre alt sein, wenn ihre Vierlinge volljährig werden. Dazwischen liegt eine Erziehung, die wohl auch jüngere Eltern extrem fordern dürfte. Ohne Hilfe von außen ist es zumal für eine einzelne Person nicht möglich, diese Herausforderung zu bestehen. Die Kinder, so viel lässt sich jetzt schon sagen, wachsen in einer Ausnahmesituation auf. Auch ist die Wahrscheinlichkeit, dass der allein- erziehenden Pensionärin etwas zustößt, viel höher als bei jüngeren Eltern. Dazu zählen Krankheiten und andere Gebrechen. Wer kümmert sich dann um die Kinder? Eine Erziehung durch Großeltern kann nötig werden, weil Eltern versterben oder aus anderen Gründen nicht in der Lage sind, ihre Kinder zu erziehen. Doch diese Situation liegt bei der Vierlingsmutter nicht vor. Denn die Lage wäre gar nicht entstanden, wenn die Mutter auf die künstliche Befruchtung verzichtet hätte. Dass es gleich viermal geklappt hat, ist Zufall und war nicht so gewollt. Aber die Berlinerin musste zumindest mit Mehrlingen rechnen, weil die bei künstlicher Befruchtung viel wahrscheinlicher sind als bei natürlicher Fortpflanzung. Immerhin hat die Mutter keine Selektion der be- fruchteten Eizellen vorgenommen, aber sie hat die Situation mutwillig herbeigeführt.
Auch die Frage nach der Verantwortung der Erzieherin ist zu stellen. Die Grundschullehrerin hat bereits 13 Kinder, für die sie sorgen muss. Warum muss sie da ohne Not noch mit 65 schwanger werden? Sehenden Auges dürfte sie sich körperlich und seelisch übernehmen, von den finanziellen Schwierigkeiten einmal abgesehen. Wiederum ist entscheidend, dass die Berliner Pädagogin den neuen Zustand willentlich herbeiführt, nicht Opfer der Umstände geworden ist.
Die Grundschullehrerin ist erst recht nach ihrer Pensionierung auf Hilfe von außen angewiesen. Wenn nicht Verwandte oder Freunde die späte Mutter unterstützen, bleiben die zusätzlichen Kosten der Erziehung und Ausbildung an der Allgemeinheit hängen. Das ist richtig, weil dem Staat jedes Kind, egal, unter welchen Bedingungen es aufwächst, gleich viel wert sein muss. Die Haltung jedoch, vorsätzlich einen Teil des egoistischen Kinderwunsches an die öffentliche Hand weiterzugeben, ist ethisch zumindest fragwürdig.
Und es bleibt noch die größte Härte für die Kinder. Denn alle vier kennen weder ihren leiblichen Vater noch ihre leibliche Mutter, da Eizelle und Samen von anonymen Spendern stammen. Aus diesem Grund hat der deutsche Gesetzgeber die Leihmutterschaft verboten. Wer Adoptivkinder hat oder kennt, weiß, wie schwer sie sich mit den Fragen der Herkunft tun. Es ist eine lebenslange Suche und wird sie immer belasten. Wer also Kinder aus dem Katalog bestellt, wie es in der heutigen Reproduktionsmedizin möglich ist, verwehrt ihnen dieses Recht. Wieder steht der Kinderwunsch über dem Kindeswohl, das nicht ausreichend beachtet wird.
Dazu kommt die mediale Inszenierung. Die ungewöhnliche Mutter wird zur Sensation und reizt Nachahmer, es ihr gleichzutun. Dass der Fall aufgegriffen wird, ist gleichwohl richtig. Denn daran lassen sich die Probleme der modernen Reproduk-
Die Berliner Lehrerin wird 83 Jahre alt sein, wenn ihre Vierlinge einmal volljährig
werden
tionsmedizin darstellen. Es ist nicht mehr die Natur, die das Kinderkriegen bestimmt, sondern es sind die medizinischen Möglichkeiten.
Ein unerfüllter Kinderwunsch ist gerade in Zeiten von Geburtenrückgängen und mangelndem Nachwuchs ein schweres Schicksal. Dass die Medizin hier hilft, ist ein Fortschritt. Doch der Fortschritt erfordert ein neues ethisches System, das auf dem Kindeswohl aufbaut. Künstliche Befruchtung ist in Ordnung, wenn sich ein Paar dadurch einen lang gehegten Kinderwunsch erfüllen kann. Oft sind solche Eltern besser für ihre Kinder als jene, die eher ungewollt Nachwuchs bekommen. Die Anonymisierung der Herkunft macht den Kinderwunsch zumindest teilweise zum seelenlosen Geschäft. Die Gerichte haben das erkannt und den von Unbekannten gezeugten Kindern ein Recht auf Auskunft zugewiesen. Auch das wird die Möglichkeiten der künstlichen Befruchtung verändern – und zu Recht.
Die Kinder, die in solchen Umständen geboren werden, haben selbstverständlich alle Rechte und die volle Aufmerksamkeit der Gesellschaft. Sie sollen nicht unter dem Egoismus ihrer Eltern leiden. Das wird auch mit den Vierlingen geschehen, die die Berlinerin – hoffentlich gesund – gebären wird.