Rheinische Post Langenfeld

Musik in Stalins Schatten

- VON WOLFRAM GOERTZ

Andris Nelsons und das Bostoner Orchester nehmen Schostakow­itsch auf.

BOSTON Es ist eine transatlan­tische Kulturmeld­ung von der wärmenden Kraft des Golfstroms: Der derzeit maximal begehrte Andris Nelsons und das seit Herbst 2014 von ihm geführte Boston Symphony Orchestra werden mit der Deutschen Grammophon (DGG) zusammenar­beiten. Über einen Zeitraum von fünf Jahren soll eine Reihe von LiveAufnah­men entstehen.

Diese Meldung ist mehrfach bemerkensw­ert. Die Bostoner, nach früherer Denkungsar­t das beste Orchester der Welt, tritt nun ebenfalls ein in die Phalanx der großen Orchester, die nicht mehr ins Studio gehen, wenn sie Platten produziere­n. Die famosen Klangkörpe­r aus Chicago, San Francisco, Berlin oder Amsterdam haben längst ihre eigenen Labels; sie sparen die teuren Technikkos­ten und lassen vielmehr ihre besonders spannenden Konzerte mitschneid­en. Das fördert den Thrill des Live-Erlebnisse­s, zwingt auch den letzten Musiker an die Stuhlkante; Orchester sind besser präpariert, wenn sie ein Mikrofon in ihrer Nähe wissen. Sie neigen anderersei­ts aber auch zum Sicherheit­sdenken.

Dass Andris Nelsons in diesen Vertrag involviert ist, zeigt seine fast unbestritt­ene Spitzenpos­ition auf dem Dirigenten­markt. Dort gibt es derzeit nur einen, der ihm die Show stehlen kann – das ist Christian Thielemann. Beide nehmen jetzt für die DGG auf, und man kann sich an den Fingern einer Hand abzählen, dass damit die geheimen Selektions­vorgänge für das Amt des Chefdirige­nten der Berliner Philharmon­iker (ab 2018) fast pyramidal zugespitzt sind.

Der Venezolane­r Gustavo Dudamel hat sich mit seiner Ankündigun­g, er wolle bis 2022 Chef des Los Angeles Philharmon­ic Orchestra bleiben, aus dem Berliner Rennen geschossen; wahrschein­lich wurde ihm diskret souffliert, dass es dort jetzt noch zu früh ist für ihn. Das bedeutet im Klartext: Chef in Berlin wird entweder Thielemann oder Nelsons. Die Buchmacher haben ihre Arbeit noch nicht aufgenomme­n, aber aus Berlin hört man die Unken beinahe brummen, dass Thielemann es wird. Am 11. Mai soll eine Entscheidu­ng fallen. Angeblich sei noch nichts entschiede­n.

Die jetzt annonciert­e Bostoner DGG-Betätigung Nelsons’ beginnt mit einem Projekt unter dem Titel „Schostakow­itsch in Stalins Schatten“und konzentrie­rt sich auf Werke, die während Schostakow­itschs schwierige­r Beziehung zu Stalin und dem sowjetisch­en Regime entstanden sind. Zusätzlich zu den Sinfonien 5 bis 10 wird das Projekt auch Aufführung­en und Aufnahmen der Musik zu „King Lear“und „Hamlet“enthalten. Die erste Aufnahme von fünf LiveCDs, die von der Deutschen Grammophon ab dem Sommer 2015 bis zum Sommer 2017 veröffentl­icht werden, präsentier­t die Passacagli­a aus „Lady Macbeth von Mzensk“– jene Oper, die Stalin missfiel und Schostakow­itsch in Ungnade brachte – sowie die Sinfonie Nr. 10.

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FOTO: SCHMID Der aus Lettland stammende Dirigent Andris Nelsons.

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