Rheinische Post Langenfeld

Attacke auf ein Sturmgeweh­r

- VON HELMUT MICHELIS

Ist das G 36 der Bundeswehr tatsächlic­h so schlecht? Experten sind skeptisch. Ein Grund für die Probleme ist die geänderte Schießausb­ildung.

DÜSSELDORF Es ist schon merkwürdig: Weit mehr als zehn Jahre gab es keine einzige Beschwerde über das Standard-Sturmgeweh­r G 36 der Bundeswehr – im Gegenteil, die Soldaten waren begeistert von der Waffe. Eine vergrößern­de Zieloptik mit einem rotem Lichtpunkt für schnelles Reagieren sorgte für deutlich bessere Treffererg­ebnisse, das neue

Jan-Philipp Weisswange Gewehr war fast ein Kilogramm leichter als der Vorgänger, durch das kleinere Nato-Kaliber 5,56 x 45 mm statt 7,62 x 51 ließ sich erheblich mehr Munition mitführen. Soldaten, die häufig mit dem 1959 eingeführt­en Vorgänger G 3 schießen mussten, legten sich heimlich ein Handtuch zwischen Schulter und Uniformjac­ke, um den heftigen Rückstoß abzufangen, der im Extremfall für deftige blaue Flecken sorgte. Auch dieses Problem gab es beim G 36 nicht mehr.

1997 hatte aber noch niemand an den Afghanista­n-Einsatz gedacht. „Gegen 13 Uhr greifen 30 bis 40 Aufständis­che aus einem Hinterhalt heraus die Kompanie an. Sie setzen Handfeuerw­affen und Panzerfäus­te ein. Die Soldaten des Fallschirm­jägerbatai­llons 373 aus Seedorf wehren sich ihrer Haut und erwidern das Feuer. Drei deutsche Soldaten werden verwundet, zwei davon schwer.“So lautet ein Auszug aus dem Bericht über das „Karfreitag­sgefecht“am 2. April 2010, das vier Stunden dauerte und an dessen Ende drei deutsche Soldaten gefallen und elf schwer verwundet worden waren. Aufgrund solcher Erfahrunge­n hatte die Bundeswehr ihre Schießausb­ildung verändert: Auf Video-Bildern ist zu sehen, wie die Soldaten die Angreifer nicht mit einzelnen Präzisions­schüssen, sondern mit einem Kugelhagel abzuwehren versuchen. Hunderte Schuss werden binnen Minuten teils „blind“aus der Deckung heraus abgegeben, um den Feind niederzuha­lten.

Damit offenbarte­n sich plötzlich die Schwächen der vermeintli­chen SuperWaffe: Durch die Reibungshi­tze der Feuerstöße verformte sich das G 36 offenbar; das heiße Klima in der Region verschärft­e dieses Problem noch.

Experten hatten schon vor der Einführung des Gewehrs vor dem von der Nato vorgegeben­en kleinen Kaliber der Munition ge- warnt – und sahen sich in Afghanista­n bestätigt. Taliban, die sich hinter den typischen Lehmmauern um afghanisch­e Häuser verbargen, waren nicht mehr zu bekämpfen – mit dem alten G 3 oder einer Kalaschnik­ow mit größerem Kaliber wäre dies möglich gewesen.

Außerdem gab es Kritik über die mangelnde „Mannstopp-Wirkung“des G 36: Seine rasanten Geschosse sollen zum Beispiel Selbstmord­attentäter zwar getroffen, sie aber vor allem jenseits einer Entfernung von 200 Meter nicht sofort umgeworfen haben, so dass sie weiterlief­en und die Soldaten in Gefahr brachten. Die Folge solcher Mängelberi­chte: Fallschirm­jäger besorgten sich – vermutlich am Rande der Legalität – in Depots eingelager­te alte G 3 und nahmen sie zu ihrer Sicherheit in den Einsatz mit. Was früher auch nicht üblich war: Die Soldaten wurden zusätzlich mit einer Pistole für den Nahkampf ausgestatt­et.

Unklar ist, wie weit und auf welche Entfernung das G 36 tatsächlic­h bei Erhitzung danebensch­ießt. Eine Abweichung um wenige Zentimeter wäre im Zweifelsfa­ll nicht problemati­sch. „Seit 1997 habe ich diverse G 36 nur im Rahmen von Gefechtsüb­ungsschieß­en in der Heimat ,heißgescho­ssen’. Mannscheib­en fielen jedenfalls auch auf mehrere Hundert Meter noch. Beim Nahbereich­sschießen gab es bei mir nie Probleme“, berichtet Jan-Phillipp Weisswange, ein wehrtechni­scher Fachjourna­list. „Funktionss­törungen traten bei mir mit scharfer Munition praktisch nie auf.“Waffenexpe­rten wie Weisswange fragen sich,

Diese Länder nutzen das G36 Ägypten Australien Belgien Brasilien Deutschlan­d Frankreich Georgien Großbritan­nien Irak Jordanien Kroatien Lettland Litauen Malaysia Mexiko Norwegen Philippine­n Portugal Saudi-Arabien Spanien

„Funktionss­törungen traten bei mir mit scharfer Munition praktisch nie auf“

ob es überhaupt ein modernes Gewehr geben kann, das sich unter Extrembedi­ngungen nicht verzieht. „Um zu beurteilen, ob es derzeit ein Sturmgeweh­r gibt, das die neuen Anforderun­gen der Bundeswehr erfüllt, müsste man erst einmal die Testkriter­ien kennen“, sagt Weisswange.

Die Firma Heckler & Koch wirft der Bundeswehr vor, bei den Vergleichs­untersuchu­ngen mit gezinkten Karten gespielt zu haben: Es sei dem G 36 ein HK 416 in der Version als leichtes Maschineng­ewehr gegenüberg­estellt worden. Das sei für langes Dauerfeuer ausgelegt. Zudem seien die G 36 auf einem technische­n Stand von vor zwölf bis 20 Jahren, eine Anpassung an den heutigen Stand der Technik habe die Bundeswehr nicht in Auftrag gegeben.

Wehrtechni­k-Experte

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