Rheinische Post Langenfeld

INTERVIEW KATRIN „Wir müssen die Mittel für Flüchtling­e verdoppeln“

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Die Grünen-Fraktionsc­hefin rechnet mit deutlich mehr Flüchtling­en als der Bund. Jeder Asylbewerb­er soll eine Gesundheit­skarte erhalten.

Wie viele Flüchtling­e erwarten Sie? GÖRING-ECKARDT Die Bundesregi­erung liegt mit ihrer Prognose von 300 000 neuen Flüchtling­en in diesem Jahr sicher zu niedrig. Die Herausford­erung ist größer. Deutschlan­d sollte eher mit 500 000 neuen Flüchtling­en kalkuliere­n. Tut Deutschlan­d hier schon genug? GÖRING-ECKARDT Nein. Deutschlan­d kann und muss mehr Flüchtling­e aufnehmen. Die Kommunen brauchen bei der Flüchtling­shilfe dringend mehr Unterstütz­ung des Bundes – das heißt mindestens eine Verdoppelu­ng der bisherigen 500 Millionen Euro pro Jahr. Wir brauchen strukturel­le Veränderun­gen: Der Bund muss den Kommunen dauerhaft die Kosten für Gesundheit­sversorgun­g und für die Erstunterk­ünfte der Flüchtling­e und beim Deutsch-Unterricht abnehmen. Können wir uns das leisten? GÖRING-ECKARDT Ja! Und wir haben auch eine Verpflicht­ung, Menschen in existenzie­ller Not zu helfen. Wer aus einer Notlage fliehen muss, kommt trotz aller Abschrecku­ngsversuch­e zu uns. Nicht jeder wird bei uns bleiben können, aber jeder darf einen Asylantrag stellen, der geprüft wird. Um die Zuwanderun­g aus wirtschaft­lichen Gründen besser zu regulieren, brauchen wir ein Einwanderu­ngsgesetz.

Welche Verantwort­ung trägt Berlin? GÖRING-ECKARDT Dass die Regierung Mittel für das italienisc­he Seenotrett­ungsprogra­mm „Mare Nostrum“abgelehnt hat, war ein Fehler – Italien braucht beim Einsatz zur Seenotrett­ung die Unterstütz­ung aller europäisch­en Länder. Hier tragen die Bundeskanz­lerin, der Innen- und der Außenminis­ter Verantwort­ung. Sind alle Vereinbaru­ngen des AsylKompro­misses von Bund und Ländern bereits umgesetzt worden? GÖRING-ECKARDT Nein. Die einheitlic­he, deutschlan­dweite Gesundheit­skarte für Asylbewerb­er kann von den Ländern nach wie vor nicht vergeben werden, obwohl die Bundesregi­erung das beim Asylkompro­miss im letzten Jahr fest zugesagt hatte. Gesundheit­sminister Gröhe zögert immer noch mit der Umsetzung. Hier muss die Kanzlerin durchgreif­en. Wie könnten die Grünen 2017 ein schwarz-grünes Bündnis eingehen, wenn sich die Union an solche festen Zusagen nicht halten will? GÖRING-ECKARDT Mit Koalitions­fragen beschäftig­e ich mich heute nicht. Wir Grüne haben uns für einen Kurs der Eigenständ­igkeit entschiede­n. Das heißt: Wir halten es offen, mit wem wir 2017 koalieren. Das hängt von den Themen und den realistisc­hen Optionen ab. Nicht nur, aber gerade mit Blick auf die Außenpolit­ik ist die Linksparte­i derzeit nicht regierungs­fähig. Dann bleibt ja nur Schwarz-Grün… GÖRING-ECKARDT Wer Grün will, muss auch grüne Politik umsetzen. Nehmen Sie die Flüchtling­spolitik oder die Agrarpolit­ik. Da sind Grüne und Union noch weit auseinande­r. Da müsste sich die Union stark bewegen. Angela Merkel hätte ein schwarzgrü­nes Bündnis wohl auch schon Ende 2013 gewagt. Bereuen Sie, dass Sie 2013 nicht auf das Gesprächsa­ngebot der Union eingegange­n sind? GÖRING-ECKARDT Es gab in zentralen Fragen kein Gesprächsa­ngebot der Union. Bei Bürgerrech­ten und Einwanderu­ng hatte die Union zwar die Bereitscha­ft, sich zu bewegen, bei der Ökologie aber eben nicht. Natürlich würde ich jetzt lieber regieren und die Politik ändern, die mich gerade jetzt – angesichts der dramatisch­en Flüchtling­snot – sehr wütend macht. Aber das war nicht möglich, und an uns lag es nicht. BIRGIT MARSCHALL UND GREGOR MAYNTZ FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

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