Kardinal Marx streitet mit Martin Walser über Gott, Glaube und Atheisten
MÜNCHEN 2004 fand in München der legendäre Dialog zwischen Joseph Kardinal Ratzinger und Jürgen Habermas statt. Intellektuelle Champions League – hier der bedeutende Kirchengelehrte, der ein Jahr später Papst wurde, dort der Großphilosoph, der sich als „religiös unmusikalisch“bezeichnete.
Elf Jahre später ein weiteres Gipfeltreffen namhafter Zeitgenossen in München: Reinhard Kardinal Marx und Martin Walser. Jemand meinte dazu salopp: Kirchenfürst trifft Literaturpapst. Intellektuelle Bundesliga. Hier der Chef der natio- nalen und europäischen Bischofskonferenz und Papst-Berater. Dort der nach Günter Grass’ Tod verbleibende deutsche Großdichter, kein Glaubender, aber ein glaubensbedürftiger, wie er über sich sagte. Durch Martin Walsers Werke scheint dessen immerwährende Glaubenssuche. Dem Kardinal schleuderte er jedoch auch entgegen: „Für mich ist die Präsenz der Kirche nicht mit dem Glauben verbunden.“Und dann dies noch: „Das kann auch Christus nicht – vermitteln zu dem dort oben.“Marx konterte reserviert: „Schaun’n wir mal.“Sein Gesicht hellte sich wieder auf, als der Ironiker und Agnostiker Wal- ser seinen Spott mit „bekennenden Atheisten“trieb: „Wenn ich so einem zuhöre, weiß ich plötzlich, dass es Gott geben muss.“Und: „Wenn man sagt, Gott gebe es nicht, hat man schon von ihm gesprochen.“Zu sagen, Gott gebe es nicht, sei ebenso lächerlich wie zu behaupten, Gott gebe es. Dann folgte wieder eine kalte Dusche des Dichters für seinen Nebenmann: „Es gibt sicherlich religiöse Erlebnisse, aber sie können nicht positiv formuliert werden.“Das klang nach „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“Marx entgegnete sofort: „Glaube ich nicht.“Darauf Walser: „Herr Kardinal, ich halte Sie da für überfordert.“
Das ging so munter hin und her zwischen den Antipoden, die sich immerhin auf diesen Befund einigen konnten: „Wir glauben mehr, als wir wissen.“Walser nannte das den „allerwichtigsten Satz“in seinem Roman „Muttersohn“von 2011, aus dem er vorgelesen hatte und in dem einer der Helden eine Jesusfigur der Neuzeit (Percy, gezeugt ohne Vater, „ein Engel ohne Flügel“) verkörpert.
Marx wurde gefragt, ob ihn solche Ironie über den „wahren Menschen und wahren Gott“nicht zusammenzucken lasse. Er antwortete gnädig und schulterzuckend: „Ist ’n Roman halt, sehr anregend, auch theologisch.“Er zitierte aus dem Alten Tes- tament: Niemand könne Gott sehen und am Leben bleiben. So einfach schwarz-weiß lägen die Dinge zwischen Glaube und Unglaube nicht. Bei den meisten Menschen sei das laut Augustinus ein Suchen und Finden bis in alle Ewigkeit. Marx bekam als Junge vom Vater oft aus Goethes „Faust“vorgelesen. Er mochte sich, den 88-jährigen Walser im Blick, rollentauschend in Mephisto versetzen und leicht abgewandelt denken: „Von Zeit zu Zeit les’ ich den Alten gern . . .“
Der Gläubige und der Agnostiker – sie sendeten auf unterschiedlichen Wellen, aber beide fanden sicht- und hörbar Gefallen am geis- tigen Austausch über die letzten Dinge, über das, was jeden Sterblichen im Innersten bewegt, wenn er ehrlich zu sich selbst ist. Der Dichter, der nie aus der (katholischen) Kirche ausgetreten ist, spielte dem Kardinal noch einen feinen Steilpass zu, als er unter beifälligem Raunen des großen Auditoriums anmerkte: „Mich wundert, warum die Kirchen nicht andauernd darauf aufmerksam machen, was Europa ohne die gewaltigen religiösen Schönheitsleistungen, etwa in Kunst und Architektur, wäre. Da nickte nicht nur der kunstsinnige Würzburger Bischof Friedhelm Hofmann heftig.