Das sollten Sie über den Song Contest wissen
Der ESC bietet immer Gesprächsstoff: Warum tragen die Slowenen Kopfhörer, die Österreicher seltsame Frisuren? Wir erklären, was wichtig ist.
Brauchen wir den ESC?
WIEN Der Punktezettel ist ausgedruckt, die Planung für die Häppchen steht – es ist Finaltag beim Eurovision Song Contest. Ab 21 Uhr (live in der ARD) kämpfen 27 Nationen in Wien um den Sieg. Das Kopfhörer-Rätsel Direkt zu Beginn ist eine gewisse Verwirrung programmiert: Das slowenische Duo Maraaya trägt Kopfhörer. Die Sängerin Marjetka Vovk will sich mit ihnen auf der Bühne genauso gut hören wie in einem Tonstudio. Aus dem Spleen wurde ein Markenzeichen. Und es gibt ein neues Instrument im Luft-Orchester: Eine Tänzerin spielt zu „Here For You“Luftgeige. Aber der Song ist gut, er wird nur wegen der frühen Startnummer kaum Siegchancen haben. Da ist die Deutsche Ann Sophie besser dran. Sie kommt mit Startnummer 17. Die schlimmste Frisur Conchita Wurst hat 2014 mit ihrem Bart halb Europa bezaubert, die andere Hälfte verstört. Die Österreicher schicken wieder einen Frisurenschocker ins Rennen: Bassist Markus Christ von The Makemakes (Nummer 14) wirkt wie aus der Zeit gefallen mit seinem 80er-Jahre-Panini-Bild-Gedächtnislook. Sollte einem das Lied bekannt vorkommen: Der Beitrag stand unter PlagiatsVerdacht, weil es an „The Scientist“von Coldplay erinnern soll. EU-Süderweiterung mit Australien Israel gehört wegen seiner besondern Geschichte und Lage zum ESC; in diesem Jahr darf auch Australien mitsingen. Guy Sebastian (Nummer 12) ist der Gast aus Down Under zum 60. Geburtstag des ESC. Sollte er gewinnen, was mit „Tonight again“durchaus machbar erscheint, wird der Wettbewerb 2016 trotzdem in Europa ausgerichtet. Polit-Lieder Beim ESC geht es in den Liedtexten nicht ausschließlich um die Liebe, die Interpreten schicken politische Botschaften in die Welt. Das kann – wie im Fall Russlands (25) – mit „A Million Voices“ziemlich daneben sein, in dem manche schon Weltmacht-Fantasien vertont hören. Sängerin Polina Gagarina beteuert, ihr ginge es nur um die Liebe. Frankreich widmet sich in „N’oubliez pas“(Vergesst nicht) den Geschehnissen des Ersten Weltkriegs. Armenien erinnert an den Völkermord und fordert im Refrain „Don’t Deny“– leugne es nicht. Aus der Türkei wird es dafür sicher keine Punkte geben. Bloß nicht verpassen Schweden schickt mit Måns Zelmerlöw und „Heroes“(10) wie immer einen aussichtsreichen Kandidaten. Allein die Lichtshow sorgt für Aufsehen. Bojana Stamenov aus Serbien (8) macht am Ende den Weather Girls Konkurrenz und Nadav Guedj aus Israel (3) Lust auf Urlaub. Bei den Wettbüros liegen Elina Borg & Stig Rästa („Goodbye to Yesterday“) für Estland (4) vorne. Sie bieten eine amüsante Paar-Show im Nick-Cave-Sound. Giannis Karagi- annis aus Zypern (11) hat eine gute Folk-Nummer, die wohltuend ruhig ist – und vermutlich deshalb unter ferner liefen landet. Dieser ESCJahrgang ist allerdings musikalisch eher Mittelmaß. Momente, Getränke nachzufüllen Die 27 Lieder sind eng getaktet, gut wenn es wie in der Karnevalssitzung schwächere Nummern gibt. Wie Großbritannien mit Electro Velvet „Still In Love With You“auf Nummer fünf – da kann man getrost schon mal die Chips auffüllen und ein neues Getränk holen. Und das Duett aus Litauen (7) sollte man besser auch verpassen. Der Anblick des Kleides der Sängerin könnte bleibende Schäden hinterlassen. Und wieder werden alle heute Abend in ein Wehklagen einstimmen: „Der Ostblock schustert sich die Punkte zu, wir bekommen von denen auch in einer Million Jahren keine zwölf Punkte! Und wir zahlen das alles .. .“Jammer, jammer, jammer.
Doch wer nörgeln will, ist beim Eurovision Song Contest falsch. Der Lieder-Wettbewerb ist Europas Samstagabend-Party, und wie bei jeder Party gilt: Wer sich drauf einlässt, hat Spaß! Er steht für Europa, jenseits von Pleiten, Krisen und Subventionen, und zeigt die Vielfalt und Eigenarten. Die Europäer lieben den ESC. Im vergangenen Jahr verfolgten insgesamt 195 Millionen Menschen das Geschehen – Rekord!
Früher gehörte der ESC-Samstag zu den Abenden, an denen ich als Kind ausnahmsweise mal länger wachbleiben durfte. Meine Nichten freuen sich nun auch schon auf heute, am Sonntag werden wir über Lieder fachsimpeln und Kleider bewerten. Der ESC verändert nicht die Weltpolitik und kürt auch nicht das beste Lied des Kontinents – aber es ist eine Musikshow mit Trara und ohne Demütigungen, einfach Familienfernsehen im besten Sinne. Ich kenne nicht viele Shows, auf die das zurzeit zutrifft. Aus einer durchaus passablen europäischen Musikveranstaltung mit gelegentlich erträglichen Gesangseinlagen ist eine musikalisch unterirdische Trullala-Show geworden, die krampfhaft versucht, die Vereinten Nationen in den Kategorien Friedensbotschafter und „Political Correctness“zu übertrumpfen. Krieg ist schlimm. Toleranz ist gut. Das wussten wir auch schon vor den ESCHalbfinalshows. Man fragt sich, warum nicht auch ein syrisches Mädchen in zerrissener Kleidung und mit nassem Haar gegen die EUFlüchtlingspolitik ansingt? „Pray for Peace“aus Russland? Geht’s noch? Dazu knubbelige Comicmännchen auf der Leinwand, halbnackte Tänzer in Latex und Gesangs-Laien, nach deren Auftritt man sich auf die Eurovisions-Melodie vom Band freut. Am Ende wundert man sich noch über die abstruse Abstimmungskungelei politisch befreundeter Staaten und die Voting-Exzesse der Exilanten. Das Kürzel ESC ist schon richtig gesetzt. ESC wie Escape. Flucht. Wenn meine Frau heute zur Live-Party einlädt, gehe ich in die Kneipe gegenüber. Dort läuft immer Fußball. Notfalls gucke ich auch ein Testspiel aus der niederländischen Liga.