Hamburg in Angst
Seit Gründung der Bundesliga im Jahr 1963 spielt der HSV im Fußball-Oberhaus. Heute droht der erste Abstieg. Er wäre auch eine Folge der verfehlten Vereinspolitik.
HAMBURG Vor dem Uwe-Seeler-Fuß im Norden der Arena steht eine gut gelaunte Reisegruppe aus China. Es ist der Tag vor dem Spiel des Jahres für den Hamburger Sportverein. Jeder wartet artig, bis er neben der Statue posieren kann, Daumen hoch, Zahnpastalächeln. Der Besuch aus Asien bringt Unbekümmertheit in eine Stadt, die in diesen Tagen nicht viel Freude hat – jedenfalls dann nicht, wenn man Fußballanhänger ist. Heute um kurz nach 17 Uhr kann eine Geschichte zu Ende erzählt sein. Dem letzten Gründungsmitglied, das ununterbrochen seit 1963 in der Bundesliga spielte, droht mal wieder der Sturz in die Zweitklassigkeit. Vergangene Saison konnte man sich noch in die Relegation retten, diesmal sieht gefühlt alles noch viel düsterer aus.
Dieter Matz, 66, begleitet den HSV beruflich seit mehr als drei Jahrzehnten. „Vor einem Jahr war deutlich mehr Hoffnung“, sagt der Reporter des „Hamburger Abendblatts“. „Ein HSV-Sieg gegen Schalke 04 – damit fängt das Elend ja schon an. Ich sehe nicht, wie das klappen sollte. Die Hamburger haben es in 90 Minuten beim VfB Stuttgart fertig gebracht, nur einmal auf das gegnerische Tor zu schießen. Das muss man sich mal vorstellen. Stuttgart hätte auch ohne Torwart spielen können und hätte trotzdem nicht verloren.“Es ist wie so oft bei großen Vereinen ein schleichender Prozess gewesen.
Der HSV hat gerne auf seine Tradition verwiesen, als ob das ein ausreichender Schutzschild sei gegen die sportliche Konkurrenz. Man hat auf große Namen gesetzt und viel zu wenig auf große Konzepte. Seit der Jahrtausendwende ging es Stück für Stück bergab. Damals standen noch Typen wie Jörg Butt, Nico Hoogma und Niko Kovac im Kader. Charakterstarke Spieler dieser Klasse wurden fortan nicht mehr in der erfor- derlichen Anzahl verpflichtet. „Die Quittung bekommt man jetzt“, sagt Matz. „Diese Spieler haben viel zu oft keine Lust gehabt, sie sind keine geschlossene Einheit. Die fahren mit ihren Porsche, Bentley und Maserati jeder seinen Weg.“
Vor jedem Heimspiel des HSV betritt zunächst Lotto King Karl die Bühne im Volkspark. Dann stimmt der Stadionsprecher die Hymne des Vereins an, die Hymne einer Stadt: „Hamburg, meine Perle.“Hamburg ist eine Millionenstadt, eine Metropole mit vielen Sehenswürdigkeiten und einer Finanzkraft, die ganz bestimmt nicht vom Fußball abhängig ist. Doch Selbstbewusstsein hat nicht nur etwas mit Zahlen zu tun, sondern vor allem ganz viel mit Emotionen. „Ein Abstieg würde weh tun“, sagt der 48-Jährige der „Bild“. „Schon jetzt ist die Häme groß, vor allem in den sozialen Medien, die nicht immer sozial sind. Viele wollen aus Schadenfreude die Sensation erleben, wenn es den HSV trifft. Ich komme damit klar. So ist das eben, wenn man sich öffentlich für seinen Klub gerade macht.“
Olaf Scholz ist derzeit als Krisenmanager im Einsatz. Hamburgs Bürgermeister ist vor die Tore der Stadt geeilt, um seine Solidarität mit dem HSV zum Ausdruck zu bringen. Bis gestern war das Team zu einem Kurz-Trainingslager in Malente. Trainer Bruno Labbadia versuchte dort die Mannschaft im Uwe-Seeler-Sportpark auf das entscheidende Spiel einzustimmen. „Ich habe eine Mannschaft erlebt, die den Willen hat zu gewinnen“, sagte das Stadtoberhaupt nach einem Blitz-