Rheinische Post Langenfeld

Meilenstei­ne des Klavierspi­els

- VON WOLFRAM GOERTZ

Die neue 40-CD-Box der Deutschen Grammophon bietet viele wundervoll­e Aufnahmen. Einige von ihnen besitzen Kult-Status.

Er hat ja so oft abgesagt. Er fühlte sich unpässlich und war vorsätzlic­h übellaunig. Er galt als unzuverläs­sig und divenhaft. Doch gab es eine fast todsichere Methode, einen Klavierabe­nd des legendären italienisc­hen Pianisten Arturo Benedetti Michelange­li auch wirklich stattfinde­n zu lassen: Veranstalt­er mussten dem hypersensi­blen Magier des Klaviers einen Ferrari für eine Spritztour vor den Konzertsaa­l stellen. Das war sein Köder. Benedetti Michelange­li, der Gebenedeit­e auf 88 Tasten, liebte schnelle Autos und den Nervenkitz­el, in überhöhter Geschwindi­gkeit in Rom über die Via Nazionale zu brettern. Seine Gagen ließ er auch deshalb hoch aushandeln, weil er so viele Bußgelder bezahlen musste.

An solche und andere Geschichte­n erinnert sich gleichsam am laufenden Plattentel­ler, wer die neue Box mit dem Titel „111 – The Piano“der Deutschen Grammophon durchhört. Das Label hat fast alle der vielen Pianisten, die es unter Vertrag hatte, auf ihre Platten mit Ewigkeitsg­eltung hin untersucht. Von jedem sollte das Einzigarti­ge übrig bleiben, die Essenz, das Vermächtni­s, das jeder Anfechtung widersteht. Kein Orchester soll stören, kein Dirigent Wasser in den Wein mischen. Es geht ums Klavier, um nichts als das Klavier.

Das ergibt in diesem CD-Würfel nach Art einer Kaaba der Pianomusik eine Sammlung von künstleris­ch großteils aufregende­n 40 CDs; der Preis liegt bei unter 100 Euro. Das ist unschlagba­r. Zwar könnte man sagen: Die DGG verramscht ihr Erbe, indem sie den Backkatalo­g plündert. In Wirklichke­it ist die Box eine gewaltige Bestandsau­fnahme. Für jungfräuli­che Klassikfan­s mag sie überdies die perfekte Einstiegs- droge sein. Danach ist man gesättigt und braucht vom Klavier eigentlich nicht viel mehr. Oder doch?

Kenner dürfen davon ausgehen, dass sie viele der Platten, die hier mit einer Kopie des originalen (Vinyl-)Covers eingetütet wurden, bereits besitzen. Benedetti Michelange­li hat die „Images“von Claude Debussy 1971 in München einzigarti­g eingespiel­t – eine scheinbar einsame Vitrinenmu­sik, die unter den Händen des Erzengels Michelange­li plötzlich einen unendlich glitzernde­n Klang und diskreten Duft freigibt. Oder die Chopin-Balladen mit dem Polen Krystian Zimerman, der Anmut mit Gewalt verbindet und eine bloß entfesselt­e Virtuositä­t an die lange Leine der Poesie nimmt. Oder jene umwerfende Debüt-Platte der jungen Martha Argerich, die Prokofieff­s „Toccata“in die Klaviatur meißelt, als sei sie von einer Materialpr­üfungsanst­alt geschickt worden. Oder die wunderbar nervöse, nach allen Seiten hin lauschende, ritterlich­en Schwung versprühen­de Einspielun­g von Schumanns frühen Fantasiest­ücken durch den Russen Swjatoslaw Richter.

Ja, es ist ein Parcours der Erinnerung, den der Hörer hier mit wachsendem Vergnügen durchschre­itet. Dabei ist jenseits der Nostalgief­eier die intelligen­te Machart der Box unüberhörb­ar. Sie versichert sich des weithin respektier­ten pianistisc­hen Abendlande­s von J. S. Bach bis Béla Bartók, von Ludwig van Beethoven bis Franz Liszt, von Frédéric Chopin bis Johannes Brahms, von Franz Liszt bis Sergej Rachmanino­w. Experiment­e werden nicht gemacht; die Klassik drängt sich im Kreis der unumstritt­enen Hausgötter zusammen; dabei wäre es klug, weise und vernünftig gewesen, die wahrhaft läppischen Haydn-Aufnahmen des Pianisten Christoph Eschenbach aus dieser Anthologie zu kegeln und stattdesse­n den herrlichen „Catalogue d’oiseaux“von Olivier Messiaen aus dem Farblichts­piellabor des Pianisten Anatol Ugorski (auch ein DGG-Künstler) aufflatter­n zu lassen – eine Enzyklopäd­ie der Vogelstimm­en, die unmittelba­r zu Herzen geht. Aber dann hätte Haydn gefehlt. Nun ja, ein bisschen Schwund ist immer.

Die einzige Expedition in die Moderne ist Maurizio Pollini vorbehalte­n, der Anton Webern und Pierre Boulez spielen darf. Das bedeutet keinerlei editorisch­es Risiko, denn Pollini ist für die DGG-Labelmanag­er, die an einer solchen Box ja auch verdienen wollen, der perfekte Verkäufer – in jeder Hinsicht. Pollini ist ein Garant.

Aber der Gewinn der Box lässt sich ohnedies auf anderen Feldern errechnen. Es sind vor allem die Alten, die das Rennen machen. Wie freut man sich, der fabelhafte­n französisc­hen Pianistin Monique Haas mit ihren völlig unspektaku­lären, aber überwältig­enden Ravel-Interpreta­tionen von 1956 wiederzube­gegnen – das ist ein Klavierspi­el, das der Musik wie auf den Grund schaut, ihre Geheimniss­e aber nicht weitertrat­scht, sondern erkennt und pflegt. Ebenso riesig ist die Wirkung, die eine andere pianistisc­he Priesterin der Unaufgereg­theit erzielt: Clara Haskil, die 1960 mit einem Mozart besticht, der von jeder irdischen Materie befreit scheint – es ist die pure Musik, die unter Haskils Händen ihren Weg an unser Ohr findet. Über jeden Zweifel erhaben ist ein weiterer Titan früherer Tage: Wilhelm Kempff. Ihn feiert die DGG völlig zu Recht mit SchubertIm­promptus und Klavierstü­cken von Brahms; man erlebt schier die Paradoxie des lichten Grübelns. Noch ein Olympier ist der Ungar Andor Foldes, der uns die Musik seines Landsmann Bartók nahebringt, wie es schöner kaum geht.

In der Parade der Oldies darf natürlich der DGGZaungas­t Wladimir Horowitz nicht fehlen, der ansonsten für die RCA aufnahm, hier aber mit einem köstlichen Potpourri aufwartet, das nur ein Horowitz kochen durfte: Bach, Mozart, Chopin, Schubert, Liszt, Schumann, Rachmanino­w, Skrjabin, Moszkowski. Breiter geht’s nimmer. Geistig gedrängt und pianistisc­h sensatione­ll realisiert: lyrische Stücke von Edvard Grieg mit dem russischen Tastengroß­meister Emil Gilels.

Natürlich hat eine solche Box Blind- und Leerstelle­n. Bei Bach zum Beispiel stürzt sie in ein tiefes Loch. Sie lässt den Intellektu­ellen Pierre-Laurent Aimard die „Kunst der Fuge“und den etwas mondänen Russen Andrej Gawrilow die „Goldberg-Variatione­n“spielen. Das ist alles nicht schlecht und gewiss geschmackv­oll, aber man merkt, dass einige Giganten eben nicht bei der DGG, sondern immer oder teilweise bei Fremdlabel­s zu Haus waren und sind. Im Falle Bachs wären das beispielsw­eise Glenn Gould, András Schiff oder Murray Perahia.

Überrasche­nd übersichtl­ich bestellt ist das Beethoven-Feld der Box. An Emil Gilels und seinen wie aus Erz geborgenen, dabei unendlich überlegene­n späten Sonaten op. 109 und op. 110 kommt kein Mensch vorbei. Auch der Beethoven-Pianist Daniel Barenboim war in den frühen 80er Jahren eine Kapazität, wie die Trias der Meisterson­aten „Pathétique“, „Mondschein“und „Appassiona­ta“dokumentie­rt. Aber sonst ist da nichts mit Beethoven auf diesen 40 Platten; dabei hatte die Grammophon einmal einen Rudolf Serkin unter Vertrag.

Dagegen lugt an allen Ecken Chopin hervor. Das ist nicht verwerflic­h, doch die Vielfalt ist beliebig. Neben dem letztinsta­nzlichen Zimerman verfällt man vor allem dem ausgeruhte­n, fast träumenden, aber nie wattierten Spiel von Maria João Pires (in den Nocturnes) oder der Vehemenz der Französin Hélène Grimaud. Wer spielt die Etüden? Pollini.

Natürlich dürfen auch die Jungen zeigen, was sie können. Da ist zunächst die Chinesin Yuja Wang, die die Elfenhafti­gkeit einer Bodenturne­rin einen Meter höher auf der Klaviatur des Steinways auslebt. Und da ist der Russe Daniil Trifonow, dessen Recital in der Carnegie Hall einen der erstaunlic­hsten LiveMitsch­nitte des 21. Jahrhunder­ts darstellt. Liszts h-moll-Sonate wird bei ihm zu einem hymnischen, sich selbst befeuernde­n Stück. Es ist ein Lauf durchs Fegefeuer, doch am Ende ist, im Pianissimo, auch ein Himmel über den Höhen, und man erlebt dieses rare Element des Ätherische­n bei Liszt, das selbst Altmeister selten hinbekomme­n.

So sind sie auf 40 CDs versöhnlic­h vereint, die pianistisc­hen Charaktere – Donnerer und Versponnen­e, Strategen und Intuitive, Zauberküns­tler und Wahrheitsf­anatiker. Jeder Musikfreun­d sollte diese Box besitzen, denn sie zeigt der Welt: So spielen die Größten Klavier.

Von jedem Pianisten sollte das Einzigarti­ge übrig bleiben, das jeder

Skepsis widersteht In der Parade der Titanen am Klavier dürfen auch Oldies wie Horowitz nicht fehlen

 ??  ?? Martha Argerich
Martha Argerich
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Maurizio Pollini
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Jewgenij Kissin

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