FLUSSFAHRT NRW Die fremde Wählerschaft
Jeder achte Wähler in NRW hat einen Migrationshintergrund. Eine große Wählergruppe, die bislang vernachlässigt wurde. Dabei könnten die Parteien gerade dort noch Stimmen gewinnen. Welche Parteien wählen Zuwanderer?
KÖLN Meral Sahin sitzt in ihrem Deko-Geschäft an der Keupstraße umgeben von Papierrosen, Perlen und Paillettenbändern und verziert ein Silbertablett. Auf dem serviert sie, was ihr in den Kopf kommt. Klar formuliert und fein verpackt.
Die Vorsitzende der Interessengemeinschaft Keupstraße ist sauer. Jahrelang hat sie sich für das Zusammenleben von Deutschen, Türken und Deutsch-Türken eingesetzt. Und jetzt, da Erdogan in Deutschland Wahlkampf macht, soll das gute Verhältnis plötzlich dahin sein?
Ostersonntag entscheidet sich, ob der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan noch mehr Macht bekommen soll – gewählt wird auch in Deutschland. Und das stiftet Unfrieden. Engagieren sich die Deutsch-Türken mehr für ihr Herkunftsland als für ihre Wahlheimat Deutschland? Sind Menschen mit Migrationshintergrund unpolitisch, wenn es um die Politik in Deutschland geht?
Eine Untersuchung des Sachverständigenrats für Integration und Migration von vergangenem Jahr hat ergeben, dass sich Zuwanderer nicht weniger für die Parteien in Deutschland interessieren. Worin sie sich unterscheiden, sind ihre Parteipräferenzen. Demnach wählen Zuwanderer mit 40,1 Prozent mehrheitlich die SPD. An zweiter Stelle steht die Union mit 27,6 Prozent, gefolgt von den Grünen (13,2 Prozent) und der Linken (11,3 Prozent). Die Türkeistämmigen als größte Migrantengruppe wählen mit knapp 70 Prozent sogar mit einer starken Mehrheit die SPD. Die Spätaussiedler und Aussiedler bevorzugen laut Studie die Union (45,2 Prozent). Ebenso wie EU-Neuzuwanderer aus Osteuropa.
Immerhin jeder achte Wähler in NRW hat laut Statistischem Landesamt einen Migrationshintergrund. Eine große Wählergruppe, die bislang vernachlässigt wurde. Dabei könnten die Parteien durch eine direktere Ansprache gerade dort noch Wählerstimmen gewinnen, sagt Wahlforscher Achim Goerres von der Uni Duisburg-Essen. Aus seiner bisherigen Forschung weiß er: „Es könnte durchaus sein, dass Migranten-Wähler als solche abgeholt werden wollen.“Aber im Grunde wisse man über die fremde Wählerschaft viel zu wenig. Nur, dass sie für die Parteien immer wichtiger würde.
Eine Einsicht, die die Parteien nur langsam erreicht. Als CDU-Chef Armin Laschet 2005 erster deutscher Integrationsminister wurde, musste er seine Kollegen erst noch davon überzeugen, dass junge Zuwanderer in Deutschland gebraucht würden. Laschet selbst hat seitdem viele Freunde in der türkischen Community. In der CDU nennt man ihn deshalb auch „Türken-Armin“.
Neuerdings kümmert sich sogar die AfD um die Einwanderer. Der NRW-Landesverband hat sein Wahlprogramm auch auf Russisch veröffentlicht. Bei vielen Themen kommen die Aussiedler und Spätaussiedler mit dem Protest der AfD überein. Sie wünschen sich mehr Ordnung und Sicherheit, haben Angst um ihre Zukunft. Für Eugen Schmidt ist es das „Asylchaos“, das ihm Sorgen bereitet. „Es können nicht alle Menschen nach Deutschland kommen“, sagt der Initiator der Plattform „Russlanddeutsche für AfD NRW“. „Wir haben Angst um unsere Frauen, unsere Kinder und Angst vor dem Terror“, sagt er.
Auf der Keupstraße hofft man, dass die AfD bei der Landtagswahl nicht zu stark wird. „Es sind noch ein paar Wochen Zeit“, sagt Ahmet Erdogan, der Vorsitzend des Moscheeverbands in Köln-Mülheim ist. Der 46-Jährige ist außerdem SPD-Mitglied, seine Partei wählen darf er als Türke aber nicht. „Ich hätte schon lange die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen können, aber ich habe gesagt, ich kann mich auch mit türkischem Pass engagieren, genauso einsetzen“, sagt er. „Das wollte ich beweisen.“
Ausländer aus Nicht-EU-Ländern wie der Türkei haben bei Landtagsund Bundestagswahlen kein Wahlrecht. Seit 1992 dürfen EU-Staatsangehörige an Kommunalwahlen teilnehmen. Erst vor wenigen Wochen sind Grüne und SPD mit dem Vorstoß gescheitert, das kommunale Wahlrecht auch auf Nicht-EUAusländer in NRW auszuweiten.
Eine Gesetzesänderung, die vor allem der SPD viele Stimmen hätte einbringen können. Denn darin ist man sich auf der Keupstraße einig: Die Türkischstämmigen könne man genauso für Angela Merkel oder Hannelore Kraft begeistern wie für Recep Tayyip Erdogan. Das müsse die deutsche Politik nur begreifen.