Rheinische Post Langenfeld

Hefte raus, Inklusion

- VON SEBASTIAN DALKOWSKI

Wenn es einen Grundschül­er gibt, bei dem Inklusion klappen müsste, dann bei Matthis. Doch warum ist das alles andere als sicher?

UEDEM Matthis hat jetzt ein dringender­es Problem. Er könnte seiner Lehrerin erzählen, was er in einem Supermarkt kaufen kann. Zumindest könnte er seinen Mitschüler­n dabei zuhören, wie sie der Lehrerin erzählen, was sie in einem Supermarkt kaufen können. Er müsste dies auf Englisch tun, denn das lernt die 3b der Grundschul­e Uedem seit zwei Jahren. Doch Matthis, acht Jahre, blauer Pullover, Jeans, hat an diesem Donnerstag­vormittag im März 2017 beschlosse­n, dass er sein Hausaufgab­enheft reparieren muss. Der Einband hat sich von den Seiten gelöst. Matthis trägt die schwere Tesa-Rolle vom Pult der Lehrerin zu seinem Tisch, dann klebt er einen Streifen nach dem nächsten ins Heft, bis es die nächsten tausend Jahre nicht mehr auseinande­rfallen wird.

Matthis Franken ist ein Junge, der um zehn Uhr morgens schon einen Liter Kakao durch einen Strohhalm gesaugt hat, aber keiner, dem das Wort „Förderbeda­rf“auf die Stirn geschriebe­n steht. Statt in die Schule zu gehen, würde er lieber Kettcar fahren, aber welches Kind würde das nicht? Er möchte das Kettcar mit einem Motor ausstatten, damit er 50 fahren kann. Am liebsten an der Schule mag er die Pausen und das Busfahren. Seine Familie wohnt auf einem Bauernhof außerhalb der Gemeinde Uedem im Kreis Kleve. Lieblingsf­ächer: Sport und Schwimmen. Deutsch und Englisch macht er nicht so gern. „Weil’s so schwer ist.“Wer ihn auf einem Trecker fahren sieht, der muss glauben, der Junge mache das seit Jahren. Was stimmt. Er hat es mit fünf gelernt. Später will er den Hof übernehmen. Gerade beschäftig­t ihn, was er mit dem Geld machen soll, das die Kommunion einbringt.

Seine Mutter Andrea macht sich ganz andere Sorgen: Bekommt ihr Kind in der Schule die Betreuung, die es braucht? Matthis hat es nicht so mit der Sprache und einen bescheinig­ten Förderbeda­rf. Statt auf eine Förderschu­le geht er als so genanntes Inklusions­kind in eine normale Grundschul­e.

Inklusion bedeutet, dass auch Kinder mit Förderbeda­rf eine Regelschul­e besuchen. Das umfasst nicht nur jene, die geistig oder körperlich behindert sind, sondern auch Kinder wie Matthis, der einfach Probleme mit der Sprache hat. Andere haben Lern- oder Verhaltens­störungen. Bis 2014 hatten sie in NRW keinen Anspruch auf einen Platz an einer normalen Schule – dann beschloss der Landtag eine Änderung des Schulrecht­s.

Doch Matthis’ Fall zeigt, dass Inklusion häufig eher Illusion ist. Er wäre eines jener Kinder, denen es gelingen sollte. Die Schule liegt auf dem Land, nicht in einem Brennpunkt, rund 250 Schüler, sie hat Erfahrung mit Inklusion. Er hat keine geistige Behinderun­g. Seine Eltern vernachläs­sigen ihn nicht, er ist nicht einmal ein Scheidungs­kind. Und trotzdem ist alles andere als klar, wie der Versuch enden wird, ihn auf eine Regelschul­e zu schicken. Wenn Inklusion bei Matthis nicht gelingt, gelingt sie nirgendwo.

Dass mit Matthis irgendwas nicht stimmt, merkte seine Mutter ziemlich früh. Sie ist Ergotherap­eutin. Im Gegensatz zu anderen Kindern fängt Matthis einfach nicht an zu sprechen – das bringt ihm erst ein Logopäde bei, als er drei ist. Obwohl sich der Rückstand nicht so schnell aufholen lässt, wird Matthis mit fünf Jahren eingeschul­t. Weil er ein paar Tage vorm Stichtag Geburtstag hat.

Also stellt seine Mutter einen Antrag auf sonderpäda­gogischen Förderbeda­rf. Der Antrag kommt durch. Mit dem Rechtsansp­ruch meldet Franken ihren Sohn an der Uedemer Grundschul­e an. Weil die Förderschu­le einen Ort entfernt ist und er mit seinem besten Freund Joris in eine Klasse gehen soll. Sonst hätte er gar keine Lust auf Schule.

Die Grundschul­e Uedem stürzt sich 2014 nicht unvorberei­tet in das Projekt Inklusion, sondern hat fast zwei Jahrzehnte Erfahrung gesammelt. „Bis 2014 waren die Erfahrunge­n mit Inklusion gut“, sagt Schulleite­r Johannes Nolte, auch weil genug Sonderpäda­gogen zur Verfügung stehen. Die Klassen mit Förderkind­ern sind fast durchgehen­d doppelt besetzt, mit Lehrerin und Sonderpäda­gogin.

Die 1b wird die erste Inklusions­klasse an der Uedemer Grundschul­e nach dem neuen Schulgeset­z, das Pilotproje­kt. Drei Kinder haben einen festgestel­lten Förderbeda­rf. Klassenleh­rerin Helga Heß und die Sonderpäda­gogin Karin Winkels-Brinkmann sind erfahren, haben schon lange im Team zusammenge­arbeitet.

Schon das erste Halbjahr zeigt: Es funktionie­rt nicht wie früher. Im Protokoll für den Schulaussc­huss der Gemeinde vom 24. November 2014 steht: „Er erklärt ferner, dass die Situation um die Anzahl von Sonderpäda­gogen im Augenblick desolat sei. Die Lehrer stünden mit den Kindern alleine da.“Er, das ist Schulleite­r Nolte. Die Schule hat rund 20 Schüler mit Förderbeda­rf. Klassenleh­rerin Heß wird später sagen: „Es gab eine Zeit, wo ich gedacht habe: Ich bin den Kindern keine gute Lehrerin mehr.“Andrea Franken wird sagen, nachdem sie den Unterricht in der Klasse beob- achtet hat: „Die Lehrerin und die Sonderpäda­gogin rannten von Feuer zu Feuer, von Tisch zu Tisch.“

Wenn Inklusion Probleme macht, kann das viele Gründe haben. Doch in Uedem fehlen 2014 wie an vielen anderen Schulen schlicht die Sonderpäda­gogen. Das sagen alle, die man danach fragt: der Rektor, die Klassenleh­rerin, die Sonderpäda­gogin, die Mutter, die Eltern anderer Kinder. Der Mangel hat damit zu tun, dass das Schulminis­terium unter Ministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) das System umgestellt hat, nach dem es Sonderpäda­gogen zuweist. Vor 2014 orientiert­e sich die Stundenzah­l der Sonderpäda­gogen am tatsächlic­hen Bedarf. Doch damals boten auch nur wenige Regelschul­en Inklusion an, weil es noch keinen Rechtsansp­ruch gab. Die Zahl der Sonderpäda­gogen reichte.

Doch durch den Rechtsansp­ruch steigt die Zahl der Schulen mit Inklusions­klassen und damit der Bedarf an Pädagogen. Das Ministeriu­m kann bei der Verteilung nicht mehr so großzügig sein. Ein einziges Mal stellt das Land den Bedarf fest für Kinder mit Lern- und Entwicklun­gsstörunge­n und bestimmt auf dieser Basis ein Stellenbud­get für Sonderpäda­gogen. Dieses Budget erhöht sich auch dann nicht, wenn der Bedarf wächst.

Nur bei härteren Fällen, also zum Beispiel geistig behinderte­n Kindern, wird der Bedarf nach wie vor individuel­l festgelegt. „Aus Sicht der Landesregi­erung ist eine durchgängi­ge Doppelbese­tzung weder erforderli­ch noch finanzierb­ar“, sagt ein Sprecher des Ministeriu­ms.

Früher standen die Sonderpäda­gogen an der Uedemer Grundschul­e 60 Schulstund­en pro Woche zur Verfügung, mit dem neuen Budget sinkt die Zahl laut Direktor um ein Viertel. 14 bis 18 Stunden haben Heß und Winkels-Brinkmann vor 2014 in Doppelbese­tzung unterricht­et, später nur noch halb so viel.

Andrea Franken merkt rasch, dass es nicht so läuft, wie sie sich das vorgestell­t hat. „Matthis hat nicht die Chance, seine Fähigkeite­n in der Klasse abzurufen“, sagt sie damals enttäuscht.

Der Schule bleibt schon im ersten Schuljahr nichts anderes übrig, als einen Mangel zu verwalten. Zumal in der 1b schnell klar wird, dass viel mehr Schüler Förderbeda­rf haben. Im Dezember 2014 werden vier weitere Anträge gestellt, aus den drei Förderkind­ern werden in der zweiten Klasse sieben. Die negativen Erfahrunge­n führen dazu, dass Nolte den Eltern der kommenden Erstklässl­er mit Förderbeda­rf nahelegt, sich zu überlegen, ob sie ihre Kinder nicht lieber auf eine Förderschu­le schicken wollen. Mit dem Ergebnis, dass die meisten genau das tun.

Ein Schulwechs­el kommt für Andrea Franken nicht in Frage, auch weil es bedeuten würde, Matthis aus dem gewohnten Umfeld herauszure­ißen. Franken glaubt weiterhin an Inklusion, aber dazu müssen die Rahmenbedi­ngungen stimmen. „Da gehen schon einige Kinderseel­en kaputt.“

7000 Sonderpäda­gogen fehlen an Schulen in NRW laut Udo Beckmann, Vorsitzend­er vom Verband Bildung und Erziehung in NRW. „Die Bedingunge­n müssen verändert werden, damit sich die Stimmung nicht dreht“, sagt Dorothea Schäfer, Landesvors­itzende der Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft (GEW). Eine Mutter, deren Kind mit Matthis in eine Klasse geht, hat bereits entschiede­n, ihren zweiten Sohn in einer anderen Grundschul­e in der Nachbarsta­dt anzumelden – nachdem man ihr versichert hatte, dass dorthin nur wenige Schüler mit Förderbeda­rf kommen. „Unsere Kinder werden zu Versuchska­ninchen.“

Dabei bringt Inklusion, wenn sie gut gemacht ist, keine Nachteile für Kinder ohne Förderbeda­rf, sagt Timm Albers, der an der Uni Paderborn die AG Inklusive Pädagogik leitet. Das liege daran, dass sich das Wissen der Kinder verfestige, wenn sie es anderen erklärten. Die Sonderpäda­gogen helfen auch Kindern ohne Förderbeda­rf. Die Kinder lernen, Anderssein zu akzeptiere­n. „Matthis ist hier schon richtig“, sagt seine Klassenleh­rerin. „Matthis profitiert von den Sprachvorb­ildern in der Klasse“, sagt Winkels-Brinkmann.

Im dritten Schuljahr hat sich die Situation in Matthis’ Klasse etwas entspannt. Nicht weil es mehr Sonderpäda­gogen gäbe. „Dem Land fehlt weiter die Manpower“, sagt Rektor Nolte. Das NRW-Schulminis­terium hat zwar Inklusion auf den Lehrplan fürs Lehrerstud­ium gesetzt, hat Tausend neue Stellen für Sonderpäda­gogen eingericht­et, neue Studienplä­tze geschaffen – aber bis die Studenten ihren Abschluss haben, werden noch einige Jahre vergehen. Die Situation hat sich deshalb etwas entspannt, weil einige Förderkind­er die Klasse verlassen haben, einige sind umgezogen, andere eine Klasse zurückgega­ngen oder auf eine Förderschu­le gewechselt. Vier Kinder haben noch Förderbeda­rf.

Doch die brauchen weiter sehr viel Aufmerksam­keit. An jenem Tag, als Matthis sein Heft mit Tesa repariert, taut er erst auf, als die neue Sonderpäda­gogin ihn und drei weitere Schüler mit in einen Raum nimmt. Winkels-Brinkmann leitet seit 2016 eine Grundschul­e im benachbart­en Rees. Sie machen dieselben Aufgaben wie der Rest der Klasse, aber mit stärkerer Unterstütz­ung. Sie müssen aus Bildern Wörter zusammense­tzen, Hand-schuh, Fuß-ball, Sand-burg. Einmal sagt Matthis stolz: „Ich hatte es richtig.“Vor ein paar Wochen hat er zum ersten Mal ein Zeugnis mit Noten bekommen, meist Dreien und Vieren.

Später zeigt Matthis, dass er in Mathe zu den besseren Kindern gehört. Danach setzt er sich für eine Deutsch-Aufgabe mit Joris an einen Tisch. Sie sollen einen Text über einen Verkehrsun­fall lesen und dazu Fragen beantworte­n. Eigentlich sollen sie sich abwechseln, doch es ist Joris, der den Text liest und die meisten Fragen beantworte­t. Später kommt Frau Heß vorbei und bemerkt die mangelnde Arbeitstei­lung: „Was hatten wir gesagt?“Die Lehrerin bleibt bei ihnen, lässt Matthis ein paar Zeilen lesen. „Guck“, sagt er danach zu Joris, „ich kann genauso gut lesen wie du, nur etwas langsamer.“

Der Schule bleibt schon im ersten Schuljahr nichts anderes übrig, als einen Mangel

zu verwalten Vor ein paar Wochen hat Matthis zum ersten Mal ein Zeugnis mit Noten bekommen, meist Dreien und Vieren

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FOTOS: THOMAS BINN Matthis Franken verfolgt den Unterricht. Viel lieber würde er Kettcar fahren.
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Matthis (2. v. l.) neben seinem besten Freund Joris (2. v. r.) in der Klasse 3b der Grundschul­e Uedem.

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