Hefte raus, Inklusion
Wenn es einen Grundschüler gibt, bei dem Inklusion klappen müsste, dann bei Matthis. Doch warum ist das alles andere als sicher?
UEDEM Matthis hat jetzt ein dringenderes Problem. Er könnte seiner Lehrerin erzählen, was er in einem Supermarkt kaufen kann. Zumindest könnte er seinen Mitschülern dabei zuhören, wie sie der Lehrerin erzählen, was sie in einem Supermarkt kaufen können. Er müsste dies auf Englisch tun, denn das lernt die 3b der Grundschule Uedem seit zwei Jahren. Doch Matthis, acht Jahre, blauer Pullover, Jeans, hat an diesem Donnerstagvormittag im März 2017 beschlossen, dass er sein Hausaufgabenheft reparieren muss. Der Einband hat sich von den Seiten gelöst. Matthis trägt die schwere Tesa-Rolle vom Pult der Lehrerin zu seinem Tisch, dann klebt er einen Streifen nach dem nächsten ins Heft, bis es die nächsten tausend Jahre nicht mehr auseinanderfallen wird.
Matthis Franken ist ein Junge, der um zehn Uhr morgens schon einen Liter Kakao durch einen Strohhalm gesaugt hat, aber keiner, dem das Wort „Förderbedarf“auf die Stirn geschrieben steht. Statt in die Schule zu gehen, würde er lieber Kettcar fahren, aber welches Kind würde das nicht? Er möchte das Kettcar mit einem Motor ausstatten, damit er 50 fahren kann. Am liebsten an der Schule mag er die Pausen und das Busfahren. Seine Familie wohnt auf einem Bauernhof außerhalb der Gemeinde Uedem im Kreis Kleve. Lieblingsfächer: Sport und Schwimmen. Deutsch und Englisch macht er nicht so gern. „Weil’s so schwer ist.“Wer ihn auf einem Trecker fahren sieht, der muss glauben, der Junge mache das seit Jahren. Was stimmt. Er hat es mit fünf gelernt. Später will er den Hof übernehmen. Gerade beschäftigt ihn, was er mit dem Geld machen soll, das die Kommunion einbringt.
Seine Mutter Andrea macht sich ganz andere Sorgen: Bekommt ihr Kind in der Schule die Betreuung, die es braucht? Matthis hat es nicht so mit der Sprache und einen bescheinigten Förderbedarf. Statt auf eine Förderschule geht er als so genanntes Inklusionskind in eine normale Grundschule.
Inklusion bedeutet, dass auch Kinder mit Förderbedarf eine Regelschule besuchen. Das umfasst nicht nur jene, die geistig oder körperlich behindert sind, sondern auch Kinder wie Matthis, der einfach Probleme mit der Sprache hat. Andere haben Lern- oder Verhaltensstörungen. Bis 2014 hatten sie in NRW keinen Anspruch auf einen Platz an einer normalen Schule – dann beschloss der Landtag eine Änderung des Schulrechts.
Doch Matthis’ Fall zeigt, dass Inklusion häufig eher Illusion ist. Er wäre eines jener Kinder, denen es gelingen sollte. Die Schule liegt auf dem Land, nicht in einem Brennpunkt, rund 250 Schüler, sie hat Erfahrung mit Inklusion. Er hat keine geistige Behinderung. Seine Eltern vernachlässigen ihn nicht, er ist nicht einmal ein Scheidungskind. Und trotzdem ist alles andere als klar, wie der Versuch enden wird, ihn auf eine Regelschule zu schicken. Wenn Inklusion bei Matthis nicht gelingt, gelingt sie nirgendwo.
Dass mit Matthis irgendwas nicht stimmt, merkte seine Mutter ziemlich früh. Sie ist Ergotherapeutin. Im Gegensatz zu anderen Kindern fängt Matthis einfach nicht an zu sprechen – das bringt ihm erst ein Logopäde bei, als er drei ist. Obwohl sich der Rückstand nicht so schnell aufholen lässt, wird Matthis mit fünf Jahren eingeschult. Weil er ein paar Tage vorm Stichtag Geburtstag hat.
Also stellt seine Mutter einen Antrag auf sonderpädagogischen Förderbedarf. Der Antrag kommt durch. Mit dem Rechtsanspruch meldet Franken ihren Sohn an der Uedemer Grundschule an. Weil die Förderschule einen Ort entfernt ist und er mit seinem besten Freund Joris in eine Klasse gehen soll. Sonst hätte er gar keine Lust auf Schule.
Die Grundschule Uedem stürzt sich 2014 nicht unvorbereitet in das Projekt Inklusion, sondern hat fast zwei Jahrzehnte Erfahrung gesammelt. „Bis 2014 waren die Erfahrungen mit Inklusion gut“, sagt Schulleiter Johannes Nolte, auch weil genug Sonderpädagogen zur Verfügung stehen. Die Klassen mit Förderkindern sind fast durchgehend doppelt besetzt, mit Lehrerin und Sonderpädagogin.
Die 1b wird die erste Inklusionsklasse an der Uedemer Grundschule nach dem neuen Schulgesetz, das Pilotprojekt. Drei Kinder haben einen festgestellten Förderbedarf. Klassenlehrerin Helga Heß und die Sonderpädagogin Karin Winkels-Brinkmann sind erfahren, haben schon lange im Team zusammengearbeitet.
Schon das erste Halbjahr zeigt: Es funktioniert nicht wie früher. Im Protokoll für den Schulausschuss der Gemeinde vom 24. November 2014 steht: „Er erklärt ferner, dass die Situation um die Anzahl von Sonderpädagogen im Augenblick desolat sei. Die Lehrer stünden mit den Kindern alleine da.“Er, das ist Schulleiter Nolte. Die Schule hat rund 20 Schüler mit Förderbedarf. Klassenlehrerin Heß wird später sagen: „Es gab eine Zeit, wo ich gedacht habe: Ich bin den Kindern keine gute Lehrerin mehr.“Andrea Franken wird sagen, nachdem sie den Unterricht in der Klasse beob- achtet hat: „Die Lehrerin und die Sonderpädagogin rannten von Feuer zu Feuer, von Tisch zu Tisch.“
Wenn Inklusion Probleme macht, kann das viele Gründe haben. Doch in Uedem fehlen 2014 wie an vielen anderen Schulen schlicht die Sonderpädagogen. Das sagen alle, die man danach fragt: der Rektor, die Klassenlehrerin, die Sonderpädagogin, die Mutter, die Eltern anderer Kinder. Der Mangel hat damit zu tun, dass das Schulministerium unter Ministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) das System umgestellt hat, nach dem es Sonderpädagogen zuweist. Vor 2014 orientierte sich die Stundenzahl der Sonderpädagogen am tatsächlichen Bedarf. Doch damals boten auch nur wenige Regelschulen Inklusion an, weil es noch keinen Rechtsanspruch gab. Die Zahl der Sonderpädagogen reichte.
Doch durch den Rechtsanspruch steigt die Zahl der Schulen mit Inklusionsklassen und damit der Bedarf an Pädagogen. Das Ministerium kann bei der Verteilung nicht mehr so großzügig sein. Ein einziges Mal stellt das Land den Bedarf fest für Kinder mit Lern- und Entwicklungsstörungen und bestimmt auf dieser Basis ein Stellenbudget für Sonderpädagogen. Dieses Budget erhöht sich auch dann nicht, wenn der Bedarf wächst.
Nur bei härteren Fällen, also zum Beispiel geistig behinderten Kindern, wird der Bedarf nach wie vor individuell festgelegt. „Aus Sicht der Landesregierung ist eine durchgängige Doppelbesetzung weder erforderlich noch finanzierbar“, sagt ein Sprecher des Ministeriums.
Früher standen die Sonderpädagogen an der Uedemer Grundschule 60 Schulstunden pro Woche zur Verfügung, mit dem neuen Budget sinkt die Zahl laut Direktor um ein Viertel. 14 bis 18 Stunden haben Heß und Winkels-Brinkmann vor 2014 in Doppelbesetzung unterrichtet, später nur noch halb so viel.
Andrea Franken merkt rasch, dass es nicht so läuft, wie sie sich das vorgestellt hat. „Matthis hat nicht die Chance, seine Fähigkeiten in der Klasse abzurufen“, sagt sie damals enttäuscht.
Der Schule bleibt schon im ersten Schuljahr nichts anderes übrig, als einen Mangel zu verwalten. Zumal in der 1b schnell klar wird, dass viel mehr Schüler Förderbedarf haben. Im Dezember 2014 werden vier weitere Anträge gestellt, aus den drei Förderkindern werden in der zweiten Klasse sieben. Die negativen Erfahrungen führen dazu, dass Nolte den Eltern der kommenden Erstklässler mit Förderbedarf nahelegt, sich zu überlegen, ob sie ihre Kinder nicht lieber auf eine Förderschule schicken wollen. Mit dem Ergebnis, dass die meisten genau das tun.
Ein Schulwechsel kommt für Andrea Franken nicht in Frage, auch weil es bedeuten würde, Matthis aus dem gewohnten Umfeld herauszureißen. Franken glaubt weiterhin an Inklusion, aber dazu müssen die Rahmenbedingungen stimmen. „Da gehen schon einige Kinderseelen kaputt.“
7000 Sonderpädagogen fehlen an Schulen in NRW laut Udo Beckmann, Vorsitzender vom Verband Bildung und Erziehung in NRW. „Die Bedingungen müssen verändert werden, damit sich die Stimmung nicht dreht“, sagt Dorothea Schäfer, Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Eine Mutter, deren Kind mit Matthis in eine Klasse geht, hat bereits entschieden, ihren zweiten Sohn in einer anderen Grundschule in der Nachbarstadt anzumelden – nachdem man ihr versichert hatte, dass dorthin nur wenige Schüler mit Förderbedarf kommen. „Unsere Kinder werden zu Versuchskaninchen.“
Dabei bringt Inklusion, wenn sie gut gemacht ist, keine Nachteile für Kinder ohne Förderbedarf, sagt Timm Albers, der an der Uni Paderborn die AG Inklusive Pädagogik leitet. Das liege daran, dass sich das Wissen der Kinder verfestige, wenn sie es anderen erklärten. Die Sonderpädagogen helfen auch Kindern ohne Förderbedarf. Die Kinder lernen, Anderssein zu akzeptieren. „Matthis ist hier schon richtig“, sagt seine Klassenlehrerin. „Matthis profitiert von den Sprachvorbildern in der Klasse“, sagt Winkels-Brinkmann.
Im dritten Schuljahr hat sich die Situation in Matthis’ Klasse etwas entspannt. Nicht weil es mehr Sonderpädagogen gäbe. „Dem Land fehlt weiter die Manpower“, sagt Rektor Nolte. Das NRW-Schulministerium hat zwar Inklusion auf den Lehrplan fürs Lehrerstudium gesetzt, hat Tausend neue Stellen für Sonderpädagogen eingerichtet, neue Studienplätze geschaffen – aber bis die Studenten ihren Abschluss haben, werden noch einige Jahre vergehen. Die Situation hat sich deshalb etwas entspannt, weil einige Förderkinder die Klasse verlassen haben, einige sind umgezogen, andere eine Klasse zurückgegangen oder auf eine Förderschule gewechselt. Vier Kinder haben noch Förderbedarf.
Doch die brauchen weiter sehr viel Aufmerksamkeit. An jenem Tag, als Matthis sein Heft mit Tesa repariert, taut er erst auf, als die neue Sonderpädagogin ihn und drei weitere Schüler mit in einen Raum nimmt. Winkels-Brinkmann leitet seit 2016 eine Grundschule im benachbarten Rees. Sie machen dieselben Aufgaben wie der Rest der Klasse, aber mit stärkerer Unterstützung. Sie müssen aus Bildern Wörter zusammensetzen, Hand-schuh, Fuß-ball, Sand-burg. Einmal sagt Matthis stolz: „Ich hatte es richtig.“Vor ein paar Wochen hat er zum ersten Mal ein Zeugnis mit Noten bekommen, meist Dreien und Vieren.
Später zeigt Matthis, dass er in Mathe zu den besseren Kindern gehört. Danach setzt er sich für eine Deutsch-Aufgabe mit Joris an einen Tisch. Sie sollen einen Text über einen Verkehrsunfall lesen und dazu Fragen beantworten. Eigentlich sollen sie sich abwechseln, doch es ist Joris, der den Text liest und die meisten Fragen beantwortet. Später kommt Frau Heß vorbei und bemerkt die mangelnde Arbeitsteilung: „Was hatten wir gesagt?“Die Lehrerin bleibt bei ihnen, lässt Matthis ein paar Zeilen lesen. „Guck“, sagt er danach zu Joris, „ich kann genauso gut lesen wie du, nur etwas langsamer.“
Der Schule bleibt schon im ersten Schuljahr nichts anderes übrig, als einen Mangel
zu verwalten Vor ein paar Wochen hat Matthis zum ersten Mal ein Zeugnis mit Noten bekommen, meist Dreien und Vieren