Kalenderblatt 27. April 1972
Er hätte es beinahe geschafft. Als Rainer Barzel (CDU) am Morgen des 27. April 1972 den Plenarsaal des Bundestags betrat, war er sicher, ihn als Bundeskanzler wieder zu verlassen. Doch das konstruktive Misstrauensvotum gegen Willy Brandt scheiterte – an nur zwei Stimmen. Es war eine der spannendsten Abstimmungen in der Geschichte der Bundesrepublik. Die hauchdünne Mehrheit der sozialliberalen Koalition war ins Wanken geraten, als immer mehr Abgeordnete aus Protest gegen Brandts Ostpolitik das Lager wechselten. Was für Brandt der Versuch einer Aussöhnung war, nannten andere den „Ausverkauf deutscher Interessen“. Alle erwarteten deshalb mit Spannung den Ausgang des Misstrauensvotums, das Barzel (l.) und sein Kabinett an die Regierung bringen sollte. Die Opposition brauchte 249 Stimmen. Doch am frühen Nachmittag verkündete Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel das überraschende Ergebnis: Nur 247 Abgeordnete hatten für den Antrag votiert. Brandt (r.) blieb Bundeskanzler. Gerüchte von bestochenen Parlamentariern verbreiteten sich rasch. Der CDU-Politiker Julius Steiner gestand später, sich für 50.000 D-Mark der Stimme enthalten zu haben. Brandt stellte ein halbes Jahr später die Vertrauensfrage. Das führte zu Neuwahlen und zum besten Ergebnis für die SPD in der Geschichte: 45,8 Prozent stimmten im November ’72 für Brandt und seine Partei.