Überm Limit
Im Kampf gegen Spielsucht und Kriminalität sollen zwei von drei Spielhallen schließen. Was zieht Menschen überhaupt dorthin? Zwei Stunden an einem von 300.000 Glücksspielautomaten im Land.
DÜSSELDORF Die Aufsicht in der „Goldenen Münze“macht mir keine Illusionen. „Wie läuft das denn hier?“, frage ich beim Betreten der abgedunkelten Spielothek, die direkt am Neusser Rathaus liegt, sowie, wichtiger noch, den Geldautomaten aller großen Banken. Der Mann hinter dem Tresen sagt tonlos: „Wie soll es schon laufen? Geld wechseln, reinschmeißen, finito.“
Das trifft es sehr gut. Bloß das mit dem Schlussmachen ist nicht so einfach, wie es klingt.
Es gibt in Deutschland rund 9000 Spielotheken und mehr als 300.000 Spielautomaten. 7,8 Milliarden Euro Jahresumsatz hat die Branche zuletzt gemacht und dem Staat dabei Steuereinnahmen von mehr als 1,8 Milliarden Euro eingebracht. Auf jeden Bankautomaten, an dem sich Geld abheben lässt, kommen fünf Spielautomaten, in die man es versenken kann. Ich setze mich an einen der acht grell beleuchteten Automaten. Auf einen der schwarzen Sessel, deren Rückenlehne kaum jemand je berührt, weil alle vornübergebeugt sitzen, hoffend, bangend.
Meist hofft man vergeblich. Jeder Gewinn ist eine Ausnahme von der Regel. Doch wer spielt, ist überzeugt, dass er auserkoren ist, das System zu schlagen, die Statistik, die Maschine. Oder schlagen wird, in der nächsten Runde. Das wirft die Frage auf: Wie viele Menschen, die regelmäßig Spielhallen aufsuchen, sind krank, nämlich suchtkrank?
Auf diese Frage hat jeder eine andere Antwort, am erstaunlichsten ist jene von Paul Gauselmann (82), der eigentlich immer gewinnt, wenn ein Spieler verliert. 10.000 Mitarbeiter hat die Firmengruppe des Automaten-Königs aus Ostwestfalen, 2,5 Milliarden Euro Umsatz machte sie im letzten Jahr mit der Programmierung, Vermietung und Wartung von „Merkur”-Spielautomaten sowie 500 gleichnamigen Spielotheken in ganz Europa. „Alles macht süchtig, wenn man es zu viel macht“, sagt Gauselmann gern, der sich auch über „böse Vorurteile“beschwert – aber auf die absolute Mehrzahl der Besucher seiner Spielhallen treffe das eben nicht zu: Das Glücksspiel sei „für über 99 Prozent unserer Gäste“eine „harmlose Freizeitbeschäftigung“, heißt es auf der Website seiner Unternehmensgruppe.
Unbestritten ist, wie man dort weiter betont, dass „nur 0,19 bis 0,82 Prozent der erwachsenen Bevölkerung“ein problematisches Spielverhalten zeigten, je nach Definition. In absoluten Zahlen wirkt dieselbe Aussage ganz anders: Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen geht von fast 500.000 Spielsüchtigen aus. Eine halbe Million Menschen, die Halt und Glück suchen, Studien zufolge oft Gewalt oder Diskriminierung erfahren haben und meist durch berufliche oder private Probleme in die Spielsucht rutschten. Für einige Opfer solcher „temporär übertriebenen Spielleidenschaft“stellt eine Stiftung Gauselmanns Geld bereit – 50.000 Euro pro Jahr.
Das Automatenspiel mache besonders schnell süchtig, sagt Tilman Becker, Leiter der Forschungsstelle Glücksspiel der Universität Hohenheim. Der Fachverband Glücksspielsucht (FAGS) meldet, dass 70 bis 80 Prozent derjenigen, die an einer entsprechenden Therapie oder Selbsthilfegruppe teilnehmen, abhängig vom Automatenspiel sind anstatt von anderen Glücksspielarten wie Lotto. Auch deshalb seien 2016 rund 1,3 Milliarden Euro allein in nordrhein-westfälischen Spielotheken verspielt worden. Diese sind einfach zugänglich, und theoretisch winkt hier alle paar Sekunden ein neuer Gewinn, dessen Erreichen der Spieler glaubt beeinflussen zu können – irrigerweise. Der Zufallsgenerator arbeitet innerhalb bestimmter Grenzen – maximaler Verlust pro Automat und Stunde: 60 Euro, maximaler Gewinn: 400 Euro. So schreibt es das Gesetz vor. Aber wann man welche Taste drückt und wie fest, spielt keine Rolle.
Nach zweieinhalb Stunden und hunderten Spielen bin ich 23,50 Euro los. Das klingt nach wenig, aber erstens habe ich nicht an mehreren Automaten zugleich gespielt, sondern an nur einem einzigen, und zwar extrem langsam und risikoarm. Und zweitens habe ich trotz allem mehr verloren als mein selbst gesetztes Limit von 20 Euro. Angefixt durch die Zwischengewinne, die ich in froher Erinnerung behielt, während ich die stetigen kleinen Verluste beim Spielen bald nicht mehr wahrnahm.
In der trügerischen Hoffnung auf den einen Gewinn, der alle Verluste wieder ausgleicht, verschulden sich
Meike Lukat viele, belügen ihre Familien und Freunde so lange, bis sie ohne soziales Netz dastehen. Manche suchen sich spät Hilfe, wenn sie ihren Job oder ihren Partner verlieren oder beides. Manche treiben die Scham und der Selbsthass in den Suizid.
„Keine Sucht ist so teuer wie die Glücksspielsucht”, betont die Polizeiliche Finanzermittlerin Meike Lukat (49) aus Haan, die auf Glücksspiel spezialisiert ist. Sie beklagt, dass weder eine zentrale Aufsichtsbehörde noch eine zentrale Ermittlungsbehörde für die Verfolgung von illegalem Glücksspiel existiert. Längst nicht jeder Automat werde vom Staat geprüft, geschweige denn jedes darauf installierte Spiel. Die Behörden verließen sich zu sehr auf die Auskünfte der Hersteller – selbst nach der Feststellung bundesweiter Manipulationen gebe man sich mit Software-Updates zufrieden, anstatt Geräte aus dem Verkehr zu ziehen, „ganz ähnlich wie in der Automobilindustrie“.
Dass die 2012 beschlossene Verschärfung des Glücksspielstaatsvertrags nach einer Übergangsfrist zum 1. Dezember dieses Jahres tatsächlich in Kraft treten wird, ist für Lukat überfällig. Der Betrieb mehrerer Spielhallen in unmittelbarer Nähe zueinander ist danach untersagt. Dass deshalb bald 70 Prozent der 4200 Spielhallen in NRW ersatzlos schließen werden, wie der Deutsche Automaten-Verband auch mit Verweis auf Job- und Steuerverluste warnt, glaubt die Expertin nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verhältnismäßigkeit der Gesetzesverschärfung bereits bestätigt.
Betreiber wie die GauselmannGruppe haben dennoch angekündigt, sich auch juristisch gegen Schließungen zu wehren.
Diese Klagewelle besorgt den Fachverband Glücksspielsucht (FAGS), der zudem auf die Einführung einer Selbstsperrung für Spieler drängt, die in Hessen von 14.000 Menschen genutzt werde. In NRW würde das laut FAGS 40.000 Spielhallen-Besucher schützen.
Dass Spielhallen-Schließungen zu einer Abwanderung von Spielern in die Illegalität führen, wie sie die Lobbyisten prophezeien, glauben weder die FAGS noch Lukat. In Kellern oder Hinterhöfen müsse sich aber ohnehin niemand verstecken, schon angesichts der Vielzahl an Wettbüros, deren Betreiber „ohne behördliche Genehmigung” in einer rechtlichen Grauzone operierten. Bei Spielhallen wie Sportwettenanbietern sieht die polizeiliche Glücksspiel-Fachfrau Lukat dasselbe Problem: „Die Kommunen sind heillos überfordert, Ordnungsbehörden oft personell unterbesetzt, und auch der Kriminalpolizei fehlt Fachpersonal. Meiner Einschätzung nach ist es politisch auch nicht gewollt, diesen Zustand zu ändern.“
Apropos Zustand ändern: Ich verlasse die Spielhalle erst, als ich überhaupt kein Bargeld mehr habe, nicht einmal das, was ich mir fürs Parkticket zurückgelegt hatte. Nun weiß ich sicher, was ich schon zuvor vermutet hatte: Glücksspiel hat nichts mit Spiel zu tun, bloß mit Glück. Die plötzliche Stille zu ertragen, mit der die Automaten Spieler strafen, denen das Geld ausgegangen ist, fällt mir trotzdem schwer. Aber eben nicht so schwer wie dem Mann mit dem ergrauten Schnäuzer und dem leeren Gesichtsausdruck am Automat neben mir: Einen 20-Euro-Schein schiebt er behutsam in den Automat „Magic 2014 Deluxe“. Dann schaltet er die Automatik ein und geht vor die Tür, um hastig die Zigarette zu rauchen, die er sich gedreht hat. Als er wiederkommt, ist sein Guthaben auf 3,40 Euro geschrumpft. Fluchend lässt er sich diesen kümmerlichen Rest auszahlen. Vom Bildschirm lachen eine Cartoon-Sonne sowie zwei Teufelchen.“Ich gehe!“, ruft er, und dann geht er. Anderthalb Meter weit, bis zum nächsten Automaten.
„Keine Sucht ist so teuer wie die Glücksspielsucht”
Polizeiliche Finanzermittlerin