Merkel, Macron und die Macht der Milizen
Frankreich holt Europäer und Afrikaner an einen Tisch, um die aktuelle Flüchtlingsbewegung in den Griff zu bekommen.
BERLIN/PARIS Bundeskanzlerin Angela Merkel saß gestern in Paris mit ihren Amtskollegen aus Frankreich, Italien und Spanien zusammen, um über Lösungen in der Flüchtlingskrise zu beraten. Europa will ganz im Süden mit der Problemlösung beginnen, deshalb waren auch die Staatschefs der afrikanischen Transitländer Tschad und Niger in Paris dabei. Eine besondere Rolle bei dem Treffen dürfte auch die Lage in Libyen gespielt haben. Der Mann der Stunde dort ist der Chef der zwar schwachen, aber international anerkannten Übergangsregierung Fajes al Sarradsch, der ebenfalls bei den Gesprächen zugegen war.
Al Sarradsch gilt als Hauptverantwortlicher für den drastischen Rückgang der Überfahrten von der libyschen Küste nach Italien in diesem Sommer. Im August des Vorjahres erreichten noch 21.294 Menschen Italien über die zentrale Mittelmeerroute, in diesem Monat waren es bislang erst 2932, das ist ein Rückgang um etwa 90 Prozent. Bereits im Juni und Juli kamen 57 Prozent weniger Flüchtlinge aus Libyen nach Italien. Normalerweise wagen wegen der günstigen Wetterbedingungen besonders viele Menschen im Sommer die Überfahrt, der Rückgang trotz gegenläufiger Prognosen in diesem Jahr ist auffällig.
Nach der offiziellen Lesart ist in erster Linie die Arbeit der von al Sarradsch kontrollierten und von der EU unterstützten libyschen Küstenwache der Grund für die Trendwende. Die libysche Küstenwache stand lange in einem zweifelhaften Ruf, inzwischen führt die italienische Regierung sie als Hauptgrund für den Rückgang der Überfahrten an und verschweigt eine andere wesentliche Ursache. Offenbar unterbindet vor allem eine der zahlrei- chen in Libyen tätigen Milizen die Abfahrt der Flüchtlinge nahe der Küstenstadt Sabrata.
In der Umgebung des 70 Kilometer westlich von Tripolis gelegenen Ortes legten lange Zeit die meisten Flüchtlingsboote ab. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete über eine aus mehreren Hundert Zivilisten, Polizisten und Militärs bestehende Gruppe namens „Brigade 48“, die das Territorium um Sabratha kontrolliert und bis vor Kurzem selbst am Menschenschmuggel beteiligt gewesen sein soll. Flüchtlinge sollen von den Mitgliedern der Ban- de in einem Lager zusammengepfercht worden sein. Die Miliz sei von einem „früheren Mafiaboss“ins Leben gerufen worden. Ihren Sitz soll sie in der Polizeikaserne der Stadt haben und mit der Stadtverwaltung kooperieren.
Internationale Beobachter bestätigten entsprechende Berichte. Seit einiger Zeit gebe es eine neue bewaffnete Gruppe in der Stadt, die offenbar dafür sorgt, dass die Menschenschmuggler nicht mehr ablegen, sagte Mattia Toaldo, Libyenexperte des European Council for Foreign Relations (ECFR). Es gebe Hin- weise darauf, dass ein in der Region mächtiger Milizen- und Schmuggelchef die Seiten gewechselt habe. Als Grund dafür wird angegeben, dass die Miliz nach Legitimation und finanzieller Unterstützung durch die von al Sarradsch geführte Übergangsregierung in Tripolis strebt, die wiederum von der EU unterstützt wird.
Das Machtgefüge in Libyen ist seit dem Ende der Gaddafi-Herrschaft 2011 brüchig, kurzfristige Interessen und schnelle Geschäfte bestimmen die Handlungen der Akteure. Wie es scheint, ist al Sarradsch das Pferd, auf das derzeit nicht nur in Europa gesetzt wird. Dabei stellt sich die Frage, ob sich Italien und die EU in die Hände ehemaliger Menschenhändler begeben, die die Flüchtlinge jederzeit als Druckmittel benutzen können.
Italien, wo im kommenden Frühjahr Parlamentswahlen anstehen, hat besonderes Interesse daran, die Fluchtroute über das Mittelmeer zu schließen. Im Jahr 2016 kamen 181.000 Menschen über das Mittelmeer, dieses Jahr waren es bislang etwas mehr als 98.000. Ist der bisherige Rückgang der Zahlen Erfolg der italienischen Libyenpolitik? Innenminister Marco Minniti setzt besonders auf die Zusammenarbeit mit Gemeinden und Stammesführern im ganzen Land, auch in der ehemaligen Schlepperhochburg Sabrata. Der Innenminister führt sich durch den Rückgang der Überfahrten in seinem Plan bestätigt. „Ich sehe Licht am Ende des Tunnels“, sagte er Mitte August. Die Konsequenzen und Modalitäten seiner Politik werfen hingegen zahlreiche Fragen auf.
Und so saß gestern Abend neben dem italienischen Ministerpräsidenten Paolo Gentiloni auch Spaniens Regierungschef Mariano Rajoy zusammen mit der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini am Konferenztisch im Elysée. Dort hatte sich der Gastgeber, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, zuvor mit Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammengesetzt, um den Gipfel vorzubereiten. Merkel wollte „Schritt für Schritt die illegale Migration reduzieren“.
Auch Macron hatte im Juli die Rivalen um die Macht in Libyen nach Frankreich geholt und ihnen die Zusicherung eines Waffenstillstandes abgerungen. Die damit verbundene Erwartung, in Libyen im großen Stil „Hotspots“nach griechischem Beispiel einzurichten, ließ er aber wieder fallen. In den Aufnahmezentren sollten Flüchtlinge identifiziert und ihre Bleibeperspektive in Europa bereits geklärt werden, bevor sie – dann auf sicheren Wegen – nach Europa kommen. Doch dafür war die Sicherheitslage in Libyen noch viel zu unsicher. So legte Merkel nun den Schwerpunkt zunächst auf eine menschenwürdige Unterbringung in den libyschen Lagern. 50 Millionen Euro hatte Deutschland dafür bereits bereitgestellt, weitere Millionen will die EU noch aufbringen, um die katastrophalen Zustände auf das Niveau zu bringen, wie es das UN-Flüchtlingswerk verlangt.