Frauen an die Macht
Natürlich gibt es noch Tabus in dieser Gesellschaft. Und wer die Debatte über den Umgang mit sexueller Belästigung in diesen Tagen verfolgt, kann erleben, wie ein Thema, das auf den Kern des gesellschaftlichen Miteinanders zielt, auf das sensible Verhältnis zwischen Mann und Frau, immer harschere Reaktionen hervorruft. Das reicht von Überlegungen der Null-Toleranz-Fraktion, ein Mindestalter für einvernehmlichen Sex festzulegen, bis zu Äußerungen wie jüngst von der großen Dame des französischen Films, Catherine Deneuve, die um Galanterie und Laszivität fürchtet und ein „Recht auf Aufdringlichkeit“fordert.
Mit der Affäre um den Filmproduzenten Harvey Weinstein, der Hunderte Frauen belästigt, einige sogar vergewaltigt haben soll, ist etwas zutage getreten, von dem jeder wusste. Jeder kennt den Begriff der Besetzungscouch. Doch erst jetzt scheint die Zeit reif, auf das zu schauen, was dahintersteht. Denn natürlich geht es nicht darum, wie in der Showbranche Rollen vergeben werden. Das Tabu, um das die Me-Too-Debatte kreist, hat mit Flirten, Knieberührungen oder Komplimenten nichts zu tun. Es geht um die Frage nach der Machtverteilung in der Gesellschaft.
Frauen, die heute selbstverständlich studieren, oft bessere Abschlüsse machen als ihre männlichen Kollegen und langsam, sehr langsam auch in die Chefetagen vordringen, wollen keine Erdulderinnen mehr sein. Sie begehren auf gegen Belästigungen, egal welchen Zudringlichkeitsgrades, weil sie das zum Objekt macht. Zu etwas, das den Jagdinstinkt weckt, um das man wirbt oder das man sich im schlimmsten Fall einfach nimmt, das also immer zur Passivität verdammt bleibt. Diese überkommene Vorstellung passt nicht mehr in die Gegenwart, in der Frauen gestalten. Vielleicht ist das auch die eigentli- che Leistung der Entertainerin Oprah Winfrey, die mit ihrer f lammenden Rede bei der Verleihung der Golden Globes so viele Menschen bewegt hat.
Sie sprach vor einem Publikum, in dem Frauen mit ihren schwarzen Kleidern demonstrativ die Rolle des begehrenswerten Objekts abgelegt hatten. Alle diese weiblichen Stars waren immer noch schön, sie trugen teure Roben, aber sie waren einen Abend lang keine Paradiesvögel, sie hatten die Haltung des Werbens aufgegeben. Und das war – bei aller hollywoodesken Inszenierung – ihr Entschluss.
Inmitten dieser optischen Demonstration weiblicher Selbstbehauptung ließ sich Winfrey nicht verführen, sich auf die Seite irgendeiner Fraktion in der Me-Too-Debatte zu schlagen. Und damit das Missverständnis zu nähren, es ginge dabei um das Gegeneinander von Mann und Frau. Winfrey erinnerte an den Kampf der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, die bekanntlich von Männern wie Frauen getragen wurde. Sie sprach über Ohnmacht, über das Erwachen von Selbstbewusstsein und das Ringen um Anerkennung eines diskriminierten Teils der Gesellschaft. Winfrey hat aus dem Scheingefecht zwischen Männern und Frauen eine Gesellschaftsdebatte gemacht. Darum konnten ihr Männer applaudieren. Ohnmacht, Unterlegenheit, Ausbeutung betrifft auch sie.
Darum zielen auch all die Fragen, die nun im Schatten von Me-Too mit seltsamer Erregtheit diskutiert werden, am Kern des Themas vorbei. Natürlich dürfen Männer noch flirten, Frauen noch kurze Röcke tragen. Zum Glück kann in einer freien Gesellschaft jeder selbst entscheiden, wie er sich gibt. Zum Glück gibt es eben keine Sittenwächter. Aber es ist Aufgabe der Öffentlichkeit, das Machtgefüge im Blick zu behalten, in dem Frauen und Männer sich bewegen. Und wenn es ein „offenes Geheimnis“in Hollywood sein konnte, was Harvey Weinstein Menschen antat, die
Das Tabu, um das die Me-Too-Debatte kreist,
hat mit Flirten, Knieberührungen oder Komplimenten nichts zu tun