Das Haus der 20.000 Bücher
Chaim Weizmann, der führende Vertreter des modernen Zionismus, hatte ihren Grundstein im Sommer 1918 gelegt. Der Lehrbetrieb wurde jedoch erst 1925 aufgenommen, und als Chimen 1936 eintraf, war es noch ungewiss, welchen Platz am akademischen Firmament sie einnehmen würde. Zahlreiche Angehörige des Lehrkörpers waren Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland, und recht viele von ihnen sprachen, wie S. J. Agnon in seinem Roman Schira schildert, kaum ein Wort Hebräisch. Wenn sie knapp bei Kasse waren, verkauften sie ihre Bücher für einen Spottpreis an Händler; manche dieser Werke gehörten zu Chimens ersten Sammlerstücken.
Kurz nach seiner Ankunft schloss sich Chimen der Haganah, der jüdischen Verteidigungsstreitmacht, an. Das war seine Reaktion auf den arabischen Aufstand, der gerade ausgebrochen war. Während der Krawalle in den Sommermonaten kamen zahlreiche Juden ums Leben, unter ihnen sechs Studenten und mehrere Hochschullehrer. Auch die Universitätsbibliothek wurde angegriffen. „Unvorhergesehen“, schrieb Agnon (eines seiner Originalmanuskripte gelangte später in Chimens Sammlung), „ohne dass die leitenden Stellen des Jischuw, der jüdischen Einwohnerschaft vom Land Israel, ahnten, welches Unheil sich zusammenbraute, trat es ein, und die Gewalttätigkeiten begannen, die man ,Zwischenfälle’ nannte. Blut der Juden war vogelfrei, Mord und Totschlag nahmen überhand, jeder Jude, dem sein Leben lieb war, traute sich bei Nacht der Gefahr wegen nicht aus dem Haus, geschweige einer, der unter Arabern lebte: sein Leben war keinen Pfifferling wert.“ Busse wurden mit eisernen Fenstergittern ausgerüstet, um die Steine abzuwehren, die Randalierer auf die Fahrzeuge warfen. Chimens Briefen zufolge verbrachte er allerdings den Dienst in der Haganah damit, scharfsinnige Debatten über philosophische Themen zu führen, statt sich militärischem Drill auszusetzen. In dieser Zeit freundete er sich mit drei anderen ernsthaften jungen Männern an: Shmuel Ettinger, Jacob Fleischer und der in Schlesien geborene Abraham „Abby“Robinson sollten in den folgenden Jahrzehnten richtungweisend für sein Leben werden. Und er träumte von Erfolg in der akademischen Welt.
Der Zweite Weltkrieg kam jedoch dazwischen. Im Sommer 1939 war Chimen nach London gereist, um seine Eltern zu besuchen. Wieder von Haifa aus war er am 11. Juli durch Marseille gekommen. Er trug eine in englischer und hebräischer Sprache verfasste Einbürgerungsurkunde der Regierung von Palästina bei sich sowie einen braunen palästinensischen Pass mit der Nummer 103.907, der im Juni des Vorjahres ausgestellt worden war. Chimen reiste mit einem viermonatigen Touristenvisum ins Vereinigte Königreich ein und wollte im Herbst nach Jerusalem zurückkehren. Der Ausbruch des Krieges durchkreuzte allerdings seine Pläne: Chimen saß als Staatenloser in London fest. Dieser Status änderte sich erst Ende 1947, als er durch eine knappe maschinengeschriebene Mitteilung erfuhr, dass seinem Antrag auf britische Staatsbürgerschaft stattgegeben worden sei. Sechs Tage nach Beginn des neuen Jahres legte er den Treueeid auf das Vereinigte Königreich ab. Sein Studium nahm er nie wieder auf. Fortan würde er Autodidakt sein.
Gewiss war Chimen davon ausgegangen, eines Tages einen ihm gebührenden Posten an einer angesehenen Universität zu erhalten. Stattdessen betrieb er in den folgenden Jahrzehnten zusammen mit Mimi (die er 1940 heiratete) Shapiro, Valentine & Co., einen ebenfalls angesehenen, wenn auch recht beengten jüdischen Buchladen im Londoner East End. Da seine wissenschaftlichen Bestrebungen zunichte gemacht worden waren, hielt er Ausschau nach anderen Zielen für seine intellektuelle Neugier. In den ersten Jahren mit Mimi widmete Chimen sich zwei Leidenschaften: Zum einen stürzte er sich, da er nicht länger gläubig war und neue Gewissheiten suchte, in die Welt des Marxismus. Und zum anderen ging er bei Heinrich Eisemann in die Lehre, um seltene Bücher zu sammeln und mit ihnen zu handeln.
Wie so viele seiner Freunde (und wie meine Großmutter und ihre beiden Schwestern) hatte Chimen sich in den ersten Jahren der Weltwirtschaftskrise immer stärker zum Kommunismus hingezogen gefühlt, erst recht jedoch seit dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs, als fortschrittlich denkende Menschen in Europa von einer Volksfront träumten, während die großen westlichen Demokratien dem Untergang der Spanischen Republik einfach nur zusahen. Mimi trat der Kommunistischen Partei Mitte der dreißiger Jahre bei. Chimen brauchte etwas länger für diesen Schritt. Als Jugendlicher hatte ich angenommen, er habe aus Rücksicht auf Rabbi Abramsky gezögert. Das war allerdings bloß eine Vermutung; mein Großvater hat mir nie richtig erklärt, warum er der Partei trotz der Erfahrungen seines Vaters beitrat oder warum er länger damit ge- wartet hatte als viele seiner Freunde und Bekannten. Allerdings fand ich später heraus, dass er in vorgerücktem Alter den einen oder anderen Wissenschaftler wissen ließ, die Kommunistische Partei habe in den dreißiger Jahren, das heißt, bevor er britischer Staatsbürger wurde, keine Ausländer aufgenommen. Außerdem wies er darauf hin, er sei schon als Heranwachsender, also noch in der Sowjetunion, ein Marxist im Geiste geworden. Was auch immer seine Gründe gewesen sein mochten, er trat der Partei erst bei, nachdem die deutsche Wehrmacht im Juni 1941 in Russland einmarschiert war.
Chimen vertraute mir auch nie an, wie er seine Mitgliedschaft in einer politischen Organisation begründen konnte, die nur zwei Jahre zuvor den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt verteidigt hatte; wie er sich selbst gegenüber seine Unterstützung für Josef Stalin rechtfertigte, die an Heldenverehrung grenzte; oder wie er die Sowjetunion bis in die späten fünfziger Jahre verherrlichen konnte (wenn auch mit geringerem Enthusiasmus nach „Onkel Joes“Tod), das heißt, noch zwei Jahre nachdem Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow das Ausmaß der entsetzlichen Verbrechen seines Vorgängers eingeräumt hatte. Vielleicht glaubte er, dass andere stellvertretend für ihn eine Erklärung geliefert hätten. Wie der englische Politiker Richard Crossman in der Einleitung zu seiner Essaysammlung Ein Gott, der keiner war schrieb, seien progressive Intellektuelle in den dreißiger Jahren „schrecklich einsam“gewesen.