Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
Erinnern Sie sich an den Fliegerleutnant, dem Sie die Offiziersbehandlung entzogen haben, weil seine Papiere nicht in Ordnung waren? Denken Sie nur nach, ich lasse Ihnen Zeit. Weil er sich geweigert hat, die Arbeit in der Mannschaftsküche zu verrichten, haben Sie ihn in den Kellerraum der C-Baracke gesperrt. Er war krank, Rückfallfieber, schwere Malaria, aber Sie ließen ihn auf seiner Sträflingspritsche in dem schmutzigen Kellerloch, bis er . . . Er simuliert, wie? Der Lagerarzt ist nicht da für Launen von Kriegsgefangene, sagten Sie. Il feint, il fait le malade. Il se trouve en parfaite santé. – An dem Tag, an dem man ihn begraben hat, haben wir einen Eid geschworen, wir fünf, und nun, sehen Sie, ist der Tag der Abrechnung gekommen. Sie erinnern sich nicht? Aber an mich erinnern Sie sich, wie? Das ist nicht Benehmen von Offizier, in Frankreich nennt man das – da! Das ist für den Bochisme. Und das für die Briefsperre und das für die Leibesvisitationen und das – Halt! Was suchen Sie? Den Revolver? Daraus wird nichts, Herr Stabskapitän. Ah, Grischa ist auch hier. Ssdrawstwujte, Grischa! Sagen Sie Ihrem Diener, Herr Stabskapitän, daß ich ihn niederschieße, wenn er sich rührt. Jawohl, ich habe mich vorgesehen. Sie wollen sich mit mir schlagen? Gut. Darüber lässt sich reden. Sie haben die Wahl der Waffen. Meine Vertreter . . .
Der Schaffner, der mit der Laterne in der Hand den Zug abging, sah sich plötzlich einem Infanterieleutnant gegenüber, der totenbleich, mit erhobenem Arm und geballter Faust, mitten im Korridor stand. Er ging weiter, schüttelte den Kopf, wendete sich bei der Tür noch ein- mal um und verschwand achselzuckend im nächsten Waggon. Mit einem leichten Anflug von Ärger und Beschämung zog sich Vittorin in seinen Winkel zurück. Halb zwei. Ich sollte versuchen, einzuschlafen. Was sich der Schaffner, der Idiot, gedacht haben mag. Ich bin todmüde. Starrt mich an. Was hat er mich anzustarren? Unverschämtheit. Grischa, der Offiziersdiener heißt Grischa. Grigorij Ossypowitsch Kedrin oder Kadrin aus Staromjena im Charkower Gouvernement. Oft genug hat er dem Professor seine Briefe diktiert. Für alle Fälle schreib’ ich es dazu.
Er zog sein Notizbuch hervor und vermerkte unter dem Namen des Stabskapitäns:
Grischa, Seljukows Ordonnanz, Grigorij Ossypowitsch Kedrin (Kadrin?) aus dem Dorfe Staromjena, Bahnstation Glawjask, Charkower Gouvernement.
Gespensterzeit
Vom Fenster des Waggons aus erkannte er in der wartenden Menge seine Schwestern, Lola und Vally, beide waren sie also gekommen. Vally war hübsch geworden, neunzehn Jahre alt, kein Kind mehr, schlank, große Augen, leichte, anmutige Bewegungen. Drei Jahre, das will etwas heißen. Und dort stand auch sein Vater, hochaufgerichtet, in der Haltung noch immer ganz der ehemalige Offizier, aber doch ein wenig gealtert.
Vittorin stieg die Stufen des Waggons hinunter. Der junge Mann mit den fremden, eckigen Gesichtszügen, dem Schnurrbärtchen und den braunen Glacés, der ihm die Plaidrolle aus der Hand nahm, war sein Bruder Oskar. Damals, vor drei Jahren, hatte er noch einen blauen Ma- trosenanzug getragen. In der freundschaftlichen, aber doch gemessenen Art, in der er dem älteren Bruder die Hand bot, lag die mit allem Nachdruck erhobene Forderung, von dem Heimgekehrten als völlig erwachsen anerkannt zu werden.
Hundert Fragen: Wie er die Reise überstanden habe, ob es in Moskau um diese Zeit schon kalt sei, was er von der Revolution gesehen habe, ob er froh sei, wieder in Wien zu sein. – „Laß dich doch anschauen, Georg, wie du aussiehst. Na, passabel, ein bisschen schmal im Gesicht.“– „Die Franzi Kroneis ist täglich zu uns gekommen, fragen, ob Nachricht da ist, und gestern, kaum daß sie fort war, kam das Telegramm.“– „Was stehen wir denn da! Avanti, avanti! Gehen wir.“– Ob er hungrig sei, ob er müde sei, ob er den Beinschuß noch manchmal spüre. – „Dieser Lenin muß ein fabelhafter Mensch sein, mir imponiert er“, sagte Oskar und bot dem Bruder eine selbstgestopfte Zigarette an.
Langsam näherte man sich dem Ausgang des Perrons. Dort stand die Franzi Kroneis, strahlend, voll Erregung und erhitzt vom raschen Gehen.
„Gar nicht hast du dich verändert“, sagte sie. „Nicht im mindesten.“
Dann nahm sie, als wäre dies etwas ganz Selbstverständliches, seinen Arm. Das war jetzt ganz anders als in den früheren Zeiten. Damals, vor drei Jahren, hatten sie ihr Einverständnis vor den anderen als ein Geheimnis gehütet.
Auf der endlosen Reise durch Sibirien und Transbaikalien hatte Vittorin mit der Stunde der Ankunft, die so unerreichbar fern schien, immer wieder die Vorstellung verbun- den, dass er in einem offenen Wagen, lässig zurückgelehnt, durch die menschenbelebten Gassen nach Hause fahren werde, an einem schönen, warmen Spätsommertag. Besonders lebhaft war diese Vorstellung in der Station Mandschuria gewesen, damals, als sie, mit ihrem Gepäck beladen, in Staubwolken gehüllt, den Weg längs des zerstörten Bahngleises und über die hölzerne Notbrücke zu Fuß hatten zurücklegen müssen. Nun war die ersehnte Stunde da, aber man benutzte die Straßenbahn.
Bei der Haltestelle verabschiedete sich die Franzi. Sie hatte sich für eine halbe Stunde vom Büro freigemacht, um ihn am Bahnhof begrüßen zu können. Nun musste sie zurück. Sie zog ihn beiseite – Ob er sie am Abend vom Büro abholen wolle. Noch immer Seilerstätte 17, jawohl. – „Aber nein, heute gehst du wohl nicht mehr aus, wirst müde sein, wie? Also auf morgen, du kannst mich auch anrufen. Und schlaf gut und träum’ nicht so viel von den – wie heißen die Mädels in Russland? Sonja, wie? Natascha? Marfa?“
„Anjuta, Ssofia, Jelena“, sagte Vittorin.
„So viele? Also morgen um sieben Uhr. Hast du überhaupt manchmal an mich gedacht?“–
In der Elektrischen wurde nicht viel gesprochen. In der Absicht, ihrem Bruder eine Freude zu machen, sagte Lola, die Franzi sei ein reizendes Geschöpf und so anhänglich. Oskar bestand darauf, seine Fahrkarte selbst zu bezahlen. Der Vater zog eine kurze Meerschaumpfeife aus der Tasche und sagte, der Krieg werde nun bald zu Ende sein, lange könne es nicht mehr dauern.
(Fortsetzung folgt)