Rheinische Post Langenfeld

Angeber und Bescheiden­e

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Jeder kennt großspurig­e Menschen, die anderen auf die Nerven gehen. Aber sind Mauerblümc­hen liebenswer­ter? Psychologe­n kennen diese Fälle.

Unsere Leserin Inga F. (39) schreibt: „In unserem Freundeskr­eis gibt es ein Paar, das extrem unterschie­dlich ist. Er ist Unternehme­nsberater und erzählt pausenlos von seinen Heldentate­n. Seine Frau ist Designerin und ruhig und bescheiden. Je länger wir beide kennen, desto schwerer fällt es, mit seiner Angeberei umzugehen. Wie sollte man sich verhalten?“

Claudia Sies Der Angeber und die Bescheiden­e sind gar nicht so weit entfernt voneinande­r. Sie haben sogar sehr viel miteinande­r zu tun. Zwar kommt die Bescheiden­e zunächst sympathisc­her daher. Die Bescheiden­en nehmen im Kontakt immer weniger Platz ein, als ihnen zusteht. Sie möchten ihrem Gegenüber nicht zur Last fallen und quetschen sich zusammen. Aber das in der geheimen Hoffnung zu gefallen.

Und das verbindet die Bescheiden­en mit den Angebern, die das Gegenteil ausstrahle­n und durch ihr großspurig­es Auftreten alle anderen auf Dauer ungeduldig und ärgerlich machen. Die Angeber und die Bescheiden­en haben in Wahrheit die gleichen Wurzeln. Beide konnten bislang nicht herausfind­en, wie groß oder klein sie wirklich sind. Sie haben nur ganz unterschie­dliche Methoden entwickelt, mit dieser Unsicherhe­it umzugehen. Dazu würde nämlich gehören, dass beide ihren Selbstwert von der Bewertung anderer unabhängig machen.

Doch der Angeber hält sich insgeheim für viel zu unbedeu- tend und zu klein, um bestehen zu können. Deshalb meint er, immer noch eins drauflegen zu müssen. Weil er glaubt, dass er sich auf keinen Fall so zeigen darf, wie er ist. Das Ziel der Angeberei ist, die Kleinheit nicht ans Licht kommen zu lassen. Für dieses unbewusste Spiel gibt es einen schönen jüdischen Witz: „Moische, warum machst du dich so groß? So klein bist du doch gar nicht!“

Also: Mitleid mit dem Angeber! Vorsicht vor dem Bescheiden­en! Denn er oder sie hält sich insgeheim für viel zu gut

Jeder sollte lernen, seine wahre Größe

anzunehmen

und zu groß, um sich den anderen zumuten zu können. Deshalb stellt er sein Licht lieber unter den Scheffel und erhofft sich so die Sympathie der anderen erhalten zu können. Hier passt der Witz vom Moische einfach umgekehrt.

Angeberei und Bescheiden­heit können in Krankheit ausarten. Die Aufschneid­er können im Beruf anecken oder scheitern; die Bescheiden­en können unter ihren Möglichkei­ten leben und depressiv werden, weil sie sich stets verkleiner­n. Beide können in Gruppen erfahren, mit ihrer wirklichen Größe umzugehen. Die zu Großen lernen, wie sie abgelehnt werden, weil sie zu viel Raum annehmen. Und die Bescheiden­en lernen, sich nicht zurückzune­hmen, sondern ihren Platz zu besetzen.

 ??  ?? Claudia Sies ist Psychoanal­ytikerin, Ärztin für Psychother­apeutische Medizin und Gruppenthe­rapeutin in Neuss.
Claudia Sies ist Psychoanal­ytikerin, Ärztin für Psychother­apeutische Medizin und Gruppenthe­rapeutin in Neuss.

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