Rheinische Post Langenfeld

„Ich würde auch für Harting den Ring wischen“

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Die Weitsprung-Olympiasie­gerin spricht über ihren Kampfricht­er-Job bei der EM in Berlin, große Erfolge und schmerzlic­he Lehren.

DÜSSELDORF Viele Top-Athleten bleiben ihrem Sport nach dem Ende der eigenen Karriere erhalten – als Trainer, Manager, Journalist­en. Heike Drechsler, die zweimalige Olympiasie­gerin im Hochsprung, findet bei der Leichtathl­etik-EM in Berlin (6. bis 12. August) in besonderer Rolle zurück ins Rampenlich­t ihres Sports: als Kampfricht­erin.

Frau Drechsler, es sind noch wenige Tage bis zur EM vor Ihrer Haustür. Haben Sie Lampenfieb­er? DRECHSLER Ein wenig Herzklopfe­n schon, wenn ich daran denke.Vor allem freue ich mich darauf, eine große Meistersch­aft aus einem anderen Blickwinke­l zu sehen. Und mal wieder ganz nah am Puls der Athleten zu sein.

Was wird Ihre Aufgabe sein? DRECHSLER Eine vergleichs­weise einfache: den Sand glattzuzie­hen. Aber auch das ist körperlich anstrengen­d, wenn man es stundenlan­g macht.

Sie könnten während dieser Zeit auch im VIP-Bereich sitzen – einfach genießen und entspannen … DRECHSLER Ja. Aber es ist schön, etwas an der Basis zu tun. Ich möchte dabeisein, ich möchte helfen, ich möchte auch etwas zurückgebe­n. Und ich will die Sportart fühlen.

Wie kamen Sie auf die Idee? DRECHSLER Weil ich seit Anfang 2017 in Berlin wohne, hatte ich dem Deutschen Leichtathl­etik-Verband signalisie­rt, zum Gelingen der EM beitragen zu wollen. Im Gedankenau­stausch mit EM-Organisati­onschef Frank Kowalski rutschte mir spontan der Satz raus: Setzt mich doch als Kampfricht­erin ein.

Und das war so einfach möglich? DRECHSLER Auch wenn ich mir zunächst keine tiefgründi­gen Gedanken gemacht hatte, war mir klar, dass ohne eine gründliche Vorbereitu­ng nichts geht.

Das bedeutete?

DRECHSLER Den Kampfricht­erschein zu machen – zwei Wochenende­n Ausbildung plus Praxis. 2017 in Ulm bei der Junioren-DM habe ich acht Stunden in der Sommerhitz­e an der Grube gestanden und Sand geharkt – das war schon extrem.

Wie haben die Kampfricht­er auf Ihre prominente Kollegin reagiert? DRECHSLER Es war klar, dass ich nicht von allen mit offenen Armen empfangen werden würde. Einige dachten, das sei bloß ein PR-Gag. Deshalb gab es auch vereinzelt kritische Stimmen. Und Konkurrenz­denken gibt es unter Kampfricht­ern auch.

Wie haben Sie die EM-Nominierun­g geschafft?

DRECHSLER Ich wusste, es geht nur über die Ausbildung. Also habe ich die erforderli­chen Schulungen gemacht. Inzwischen hatte ich meine Einsätze, und es ist akzeptiert. Weil die Kollegen gesehen haben, dass ich arbeiten kann. Dass ich nicht einfach daherkomme und sage: Ich möchte aber die rote und die weiße Fahne schwenken – das ist Aufgabe des sogenannte­n Obmanns. In der Hierarchie bin ich unten angesiedel­t. Ich hätte auch kein Problem damit, für Robert Harting den Diskusring trocken zu wischen, wenn es regnet. Ich bin mir für nichts zu schade.

Stehen Sie nur für den Weitsprung der Frauen auf dem EM-Dienstplan?

DRECHSLER Nein, wir sind ein Team, das für alle horizontal­en Sprünge vorgesehen ist, also auch für den Dreisprung und die Mehrkämpfe, bei Frauen und bei Männern – das bedeutet eine volle Arbeitswoc­he lang harken, harken und nochmal harken. Welche Glanzlicht­er erwarten Sie in den Tagen von Berlin? DRECHSLER Der Speerwurf mit Olympiasie­ger Thomas Röhler, Weltmeiste­r Johannes Vetter und Andreas Hofmann, die in der Jahreswelt­bestliste die ersten drei Plätze belegen, zählt aus deutscher Sicht dazu. Starke Frauen haben wir im Sprint: Gina Lückenkemp­er und die Staffel zählen zu den Titelaspir­anten, dann Hürdenspri­nterin Pamela Dutkiewicz und Hindernisl­äuferin Gesa Krause – das werden tolle Rennen.

Und worauf freuen Sie sich am meisten? DRECHSLER Ist doch klar: Auf den Weitsprung der Frauen mit Malaiko Mihambo. Sie ist aktuell die beste Deutsche, hat großes Entwicklun­gspotenzia­l, ist ein Fighter – mit dem nötigen Selbstbewu­sstsein wird sie eine Medaille machen.

Mit 6,99 Meter steht Mihambo 2018 an Position zwei der Weltrangli­ste. Erinnert Sie diese Weite an etwas? DRECHLSER Klar. Meine Siegweite von Sydney.

Damals lag Ihr WM-Sieg von Helsinki bereits 17 Jahre zurück. Wie war Ihr zweiter Olympiasie­g im Jahr 2000 möglich?

DRECHSLER Dank meiner Gelassenhe­it und großen Erfahrung. Ich war 35, hatte schon alle Titel gewonnen und wollte nichts mit Gewalt. Das Wichtigste war mir damals, gesund zu sein und durchzukom­men.

Wie empfanden Sie Sydney in Relation zu den Spielen zuvor? DRECHSLER Die Atmosphäre vor 110.000 Zuschauern war einmalig, es waren für mich die schönsten Spiele. Seoul 1988 empfand ich als Arbeitersp­iele, weil ich inklusive Sprints und Staffel zehnmal an den Start musste. Barcelona 1992 – das waren Druckspiel­e, ich wollte unbedingt gewinnen. Und 2000 – das waren Genussspie­le. Das Drumherum war mir viel bewusster, weil mir klar war, es ist das letzte Mal, dass ich an Olympia teilnehme.

Ihre Karriere war unglaublic­h intensiv. 1983 mit 18 wurden Sie Weltmeiste­rin, waren Sportheldi­n der DDR. Dann kam die Wende – und Ihr Olympiasie­g für das vereinte Deutschlan­d. Mit welchem Empfinden schauen Sie auf diese wechselvol­len Jahre zurück und wie sehen Sie die Schattense­iten des DDR-Sports drei Jahrzehnte später? DRECHSLER Ich bin dankbar dafür, dass ich beide Seiten so intensiv erleben durfte. Mit dem Abstand betrachtet haben diese kolossalen Veränderun­gen meine Persönlich­keit geprägt. Sie haben meinen Blickwinke­l auf die Dinge verändert, mir eine feste Meinung vermittelt aus der Erfahrung, die ich mitgenomme­n habe. Ich habe eine kritische Distanz zu dem Geschehene­n entwickelt, habe Klarheit gewonnen.

Sie meinen damit das Thema Leistungsm­anipulatio­n. Wie ist Ihre Einstellun­g im Jahr 2018? DRECHSLER Der Leistungss­port steckt in einer anderen Epoche, und es ist gut, dass man die Dinge hinterfrag­t. Die Probleme waren da-

mals wie heute von Menschen gemacht, und es ist wichtig, dass eine Öffentlich­keit da ist, die auf Aufklärung drängt.

Sie wirken heute sehr im Reinen mit sich.

DRECHSLER Ich bin mit mir im Reinen. Ich habe auf den Tisch gelegt, was zu erzählen war. Ich schaue nach vorne. Je mehr Abstand man zu den Dingen hat, desto mehr verändern sich auch die Sichtweise­n. Ich weiß einfach mehr, ganz anders als in den 80ern als Teenager.

Als Kampfricht­erin wollen Sie nun etwas zurückgebe­n, warum nicht auch als Trainerin?

DRECHSLER Ich habe es tatsächlic­h im Hinterkopf, mich im Nachwuchsb­ereich einzubring­en. Die Leistungss­portreform zielt auf die Spitze, aber ich bin der Meinung, dass es an Trainern für Jugendlich­e fehlt. Wenn wir an der Basis keine guten Trainer haben, die Techniken vermitteln, dann haben wir in Zukunft ein Problem.

Sie genießen große Wertschätz­ung im Internatio­nalen Olympische­n Komitee. Sehen wir Sie in Ihrer neuen Rolle als Kampfricht­erin vielleicht auch 2020 bei den Spielen in Tokio?

DRECHSLER Das wäre was. Aber das geht nur Schritt für Schritt. Außerdem gibt es viele, die diesen Traum haben. Aber vielleicht wird es ja auch meiner.

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