Den Startblock immer im Kofferraum
Gina Lückenkemper kann ein Star der Leichtathletik-EM werden. Dafür hat die meinungsfreudige Athletin des TSV Bayer 04 Leverkusen an ihren ersten Metern gefeilt
BERLIN Sie treibt Hochleistungssport, stählt täglich ihre Muskeln mit Sprints oder Krafttraining. Kaum zu glauben, dass Leichtathletin Gina Lückenkemper bei ihrem liebsten Ausgleich Muskelkater bekommt. „Wegen der völlig unterschiedlichen Belastung“, sagt die 21-Jährige. Also hat sie in den beiden Wochen zwischen dem Gewinn des deutschen Meistertitels und dem EM-Auftakt auf ihr Hobby Reiten verzichtet. Aber nicht auf eine Auszeit bei ihrem Reitpferd Picasso.Vornehmlich, um dessen Fell liebevoll zu bürsten und zu säubern.
„Weil ich dabei abschalten und runterfahren kann“, sagt Lückenkemper, die zu einem großen Star der Europameisterschaften in Berlin werden könnte. Das Durchatmen brauchte sie nach all dem, was auf sie eingeströmt war. Weil der von ihr gewählte Profi-Alltag sehr beanspruchend ist. Er spielt sich im Dreieck zwischen Bamberg, Leverku- sen und Merklingsen ab. Zwischen dem Wohnort ihres Partners Stefan, ihremVerein TSV Bayer 04, und dem Ort, wo Picasso im Stall steht – nur zehn Kilometer von ihrer Heimatstadt Soest entfernt. Den Startblock hat sie immer im Kofferraum.
Gina Lückenkemper
40 Sponsoren- und Medientermine mögen es gewesen sein, seit Lückenkemper bei der WM 2017 im Vorlauf als erste Deutsche seit 26 Jahren die 11-Sekunden-Marke unterbot. Seit Katrin Krabbe. 10,95 Sekunden zeigte die Uhr in London. Noch am selben Abend begeisterte die Westfälin die deutschen Fernsehzuschauer mit ihrer unbeschwerten und fröhlichen Art. Offenbarte ihr Potenzial als every- body’s darling. Sie erreichte die Herzen der Sportfans, doch womöglich raubte ihr der Auftritt im Aktuellen Sportstudio die Konzentration für das Halbfinale. Tags darauf folgte das ernüchternde WM-Aus.
Sie hat gelernt. Sich in den letztenWochen vor der EM rar gemacht. „Ich fokussiere mich auf den Sport, wenn es drauf ankommt“, sagte Lückenkemper nach ihrem DM-Sieg von Nürnberg. Schaute die Tage danach noch einmal bei Picasso rein. Und feilte anschließend zurückgezogen im Trainingslager in Kienbaum vor den Toren Berlins an ihrer Form. Nicht zuletzt am Start, ihrer großen Schwäche.
„Der linke Arm ist beim ersten Schritt viel zu weit nach hinten gestreckt“, erklärt sie in der ARD-Reportage „Start. Ziel. Sieg?“– beim Blick auf ein Video, das ihr Freund in Bamberg aufgenommen hat. Sprinttraining ist Sisyphusarbeit. Neben der Schnelligkeit spielen viele Details eine Rolle. „Es hängt alles zusammen. Wenn ich den Arm an- winkle, kann ich den ersten Schritt schneller setzen. Eine Kleinigkeit, aber es ist Zeit, die ich liegen lasse.“
Selbstverständlich wird Lückenkemper in Berlin an ihrer Bestmarke gemessen – will sie aber nicht als Belastung empfinden. „Diese Zeit unter elf Sekunden puscht mich. Weil ich gesehen habe, was ich kann. Das macht mich stolz und motiviert mich“, sagt sie, relativiert aber auch: „Ich bin 21 und erst am Anfang meiner Karriere.“Deshalb lasse sie „extreme Erwartungshaltungen anderer Leute nicht an mich ran“und sage: „Leute, lasst mal die Kirche im Dorf. Ich habe noch ein bisschen.“
Ihren Eigenanspruch hat die ehrgeizige junge Frau, die das Herz auf der Zunge trägt, für Berlin klar formuliert: „Ich möchte mit zwei Medaillen nach Hause fahren. Welche das sein werden? Keine Ahnung.“Drei Chancen hat sie: über 100 und 200 Meter sowie in der Staffel. Möglich, dass sie danach Muskelkater bekommt – obwohl sie nicht geritten ist.
„Ich möchte mit zwei Medaillen nach Hause fahren. Welche das sein werden? Keine Ahnung“
TSV Bayer 04