Steinmeier warnt vor „Rächern“
Bundespräsident und Kanzlerin verurteilen Ausländerhass und Gewalt nach erneuten Ausschreitungen in Chemnitz. Der Innenminister bietet Sachsen Verstärkung an.
BERLIN Angesichts wiederholter Ausschreitungen im sächsischen Chemnitz hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an die Bewohner der Stadt appelliert, nicht „selbsternannten Rächern“hinterherzulaufen. Er teile die Erschütterung über die Tötung eines Chemnitzer Bürgers, sagte das Staatsoberhaupt in Berlin. „Aber die Erschütterung über diese Gewalttat wurde missbraucht, um Ausländerhass und Gewalt auf die Straßen der Stadt zu tragen“, sagte Steinmeier. Das verurteile er „auf das Schärfste“.
„Es darf auf keinem Platz und keiner Straße zu solchen Ausschreitungen kommen“, lautete auch die Kritik von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie bezog sich auf Videoaufnahmen von Hetzjagden und Zusammenrottungen in Chemnitz. Nach der Randale vom Sonntag war es auch am Montag wieder zu Gewalt mit mindestens 20 Verletzten gekommen, als rund 6000 Menschen an einer von Rechten angemeldeten Demonstration teilnahmen und weitere 1000 eine Gegendemonstration bildeten.
Die Linkspartei forderte wegen der Krawalle in Chemnitz den Rücktritt des sächsischen Innenministers Roland Wöller (CDU). Dieser sei vom Verfassungsschutz gewarnt worden, dass sich aus der ganzen Bundesrepublik rechtsradikale, gewaltbereite Gruppen in Chemnitz einfinden werden, sagte Parteichef Bernd Riexinger. Aus Sicherheitskreisen verlautete, es gebe bundesweit eine breite Solidarisierung rechtsextremistischer Kreise mit den ausländerfeindlichen Gruppen in Chemnitz. Diese hatten die Empörung über eine tödliche Messerstecherei genutzt, um aus einem spontanen Protestmarsch heraus Jagd auf Menschen zu machen, die ausländisch aussehen. Für die Tötung macht die Staatsanwaltschaft einen 23-jährigen Iraker und einen 22-jährigen Syrer verantwortlich. Beide sitzen in Untersuchungshaft.
„Ich bedauere diesen Todesfall zutiefst“, sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). Betroffenheit in der Bevölkerung sei verständlich, Gewalt aber unter keinen Umständen gerechtfertigt. Seehofer bot Sachsen polizeiliche Unterstützung.
Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Christian Hirte (CDU), verurteilte die Eskalationen und rief zur Unterstützung für Sachsen auf. „Eine Tat wie in Chemnitz darf nicht dazu führen, dass ein Mob versucht, den Rechtsstaat außer Kraft zu setzen“, sagte Hirte unserer Redaktion. Er sei überzeugt, dass auch die breite Mehrheit der Sachsen diese Eskalation abstoßend und beschämend findet. „Wenn eine Minderheit teilweise im Stil von Selbstjustiz handelt, dann wird unsere staatliche Ordnung in ihren Grundfesten herausgefordert.“Zugleich verlangte Hirte Aufklärung. „Niemand sollte aus der schnellen Empörung heraus über einem ganzen Bundesland und seinen Bürgern den Stab brechen.“
Der Bielefelder Konfliktforscher Andreas Zick rief die sächsische Regierung zum entschiedenen Handeln auf. „Sachsen hat in der Vergangenheit viele Erfahrungen mit einer terroristischen und extremistischen Szene gemacht“, sagte Zick unserer Redaktion. „In einigen Regionen Sachsens gibt es Rechtsextremisten bereits in der dritten Generation.“Dort hätten sich die Strukturen sehr stark verfestigt. Gerade der ländliche Raum sei nicht nur abgehängt, weil Menschen dort oft keine Perspektive für ihre Zukunft sähen, sondern auch was die Präventionsarbeit angehe. Die Regierung müsse noch mehr für Prävention tun.
BERLIN Die Parteien sind zerstritten, die Demokraten spüren Verachtung, die Sprache eskaliert, auf den Straßen kommt es zu rassistischer Hetze und gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Rechten und Linken. Haben wir schon „Weimarer Verhältnisse“oder stecken wir nur in einer gesellschaftspolitischen Krise? Die Parallelen und Unterschiede zur Weimarer Republik.
Gespaltene Gesellschaft Wie in der Weimarer Republik driftet die Gesellschaft auseinander. Eine wachsende Gruppe traut sich immer offener, ihre rassistischen Einstellungen öffentlich kundzutun. Die Sprache der politischen Auseinandersetzung verroht. Mit der AfD gewinnt eine Partei an politischem Einfluss, die völkisches Gedankengut vertritt und Stimmung gegen Ausländer schürt. Fremdenfeindliche und islamophobe Gruppierungen wie auch die AfD nutzen den Begriff der „Lügenpresse“, um freie Berichterstattung herabzuwürdigen und unglaubwürdig zu machen. In der Weimarer Republik machte der „Völkische Beobachter“als NSDAP-Blatt mit dem Begriff „Lügenpresse“Stimmung gegen demokratische Zeitungen.
Pogromstimmung Im Osten des Landes ist die Atmosphäre teilweise so aufgeheizt, dass sich schnell eine Pogromstimmung breitmachen kann, wie in diesen Tagen in Chemnitz. Der gewaltsame Tod eines einfachen Bürgers wie der des 35-jährigen Tischlers muss eine Stadt aufschrecken. Doch die dann folgenden Demonstrationen, die zu einer Gewaltorgie mit der Verfolgung ausländisch aussehender Menschen wurde, wirken, als habe es nur eines Anlasses bedurft, um selbst Gewalt auszuüben. Eskalationen dieser Art gab es in der Weimarer Republik auch immer wieder.
Unvorstellbar Dass Adolf Hitler eines Tages tatsächlich Reichskanzler werden könnte, hielt man zumindest in den 20er Jahren für eine absurde Idee. 1928 kamen die Nazis auf 2,63 Prozent der Stimmen. 1930 waren es 18,3 Prozent, bevor sie ab 1932 zunächst deutlich über 30 Prozent und 1933 dann bei fast 44 Prozent landeten. Es gab genug warnende Stimmen. Man kann die AfD in ihrer Zielsetzung nicht mit der NSDAP vergleichen. Ähnlich ist aber das Phänomen, dass dort, wo die Rechtspopulisten an Kraft gewinnen, die Bereitschaft demokratischer Parteien wächst, die Ächtung zu lockern – wie beispielsweise in Brandenburg.
Soziale Netzwerke Die gab es in der Weimarer Republik noch nicht. Die sozialen Netzwerke sind in jedem Fall ein Stimmungsbeschleuniger. Während in der Weimarer Zeit die erbitterten politischen Auseinandersetzungen über Zeitungen und martialische Plakate ausgetragen wurden, finden sie heute insbesondere in sozialen Netzwerken statt. Während in der Bundesrepublik grundsätzlich ein sehr viel respektvollerer politischer Umgangston herrscht als zu Weimarer Zeiten, brechen sich Hass und Hetze in den Foren im Netz Bahn.
Wirtschaftliche Lage Die Weimarer Republik hatte mit den Folgen der Weltwirtschaftskrise, Reparationsleistungen und Massenarbeitslosigkeit zu kämpfen. Die schwierige soziale Lage machte viele Menschen anfällig für Hetze gegen Juden und für vergiftete Versprechungen eines radikalen Politikwechsels. Der ohnehin vorhandene Antisemitismus konnte Auftrieb bekommen. Deutschland im Jahr 2018 verfügt über eine brummende Konjunktur und Rekordbeschäftigung. Es geht aber nicht allen gut, und in der Mittelschicht existieren Abstiegsängste. Der massenhafte Zuzug von Flüchtlingen in den vergangenen Jahren war den schon vorher im Land agierenden Rassisten und Rechtsextremisten Wasser auf die Mühlen.
Regionale Unterschiede Auch in Westdeutschland finden rechtspopulistische Stimmenfänger Gehör und der Verfassungsschutz beobachtet rechtsextremistische Umtriebe. Im Westen aber sind diese Gruppen deutlich in der Minderheit. Im Osten, insbesondere in Sachsen, ist es nicht ausgeschlossen, dass die AfD bei den Landtagswahlen 2019 stärkste Partei werden könnte. Der Osten Deutschlands ist politisch volatiler als der Westen. Die Parallelen zu Weimar sind stärker vorhanden.
Historische Erfahrung Sie ist der größte und wichtigste Unterschied zwischen der Bundesrepublik und Weimar. Bei der Aufarbeitung der Nazi-Zeit und ihrer Entstehung haben die Deutschen ihre Lektion gelernt. Niemand verlässt die Schule, ohne vom Holocaust, vom Zweiten Weltkrieg und den alltäglichen Gräueltaten der Nazis erfahren zu haben. Im Westen ist die Tradition des Erinnerns und Mahnens noch stärker verankert als im Osten, wo zunächst eine Diktatur die nächste ablöste und das Erinnern an die Nazi-Zeit in der Regel mit sozialistischer Propaganda verbunden war. Auch das politische System der Bundesrepublik ist auf die Lehren aus Weimar gebaut. Der Präsident hat nur noch repräsentative Funktion, so dass nicht mehr ein Mensch alleine über die Einsetzung und Absetzung des Kanzlers entscheiden und mit Notverordnungen regieren kann. Die meisten Politiker tragen auch im Bewusstsein, dass instabile politische Verhältnisse radikalen Kräften Chancen eröffnen. So hat sich in der Bundesrepublik über die Zeit eine Konsenskultur herausgebildet, die über Jahrzehnte viel Stabilität geschaffen hat, in den vergangenen Jahren aber in ihrer Selbstverständlichkeit und Selbstzufriedenheit unter Druck geraten ist. Nun gilt es, die politischen Debatten wieder offener und ergebnisoffener zu führen, ohne sich darüber zu zerfleischen.