Rheinische Post Langenfeld

Eine Verfassung für Feiertage

Notstandsr­echte, zu viel direkte Demokratie, unwirksame Grundrecht­e — die Weimarer Verfassung gilt als Wegbereite­r des Nationalso­zialismus. Dabei handelt es sich um ein Missverstä­ndnis. Das ist 100 Jahre später keine gute Nachricht.

- VON HENNING RASCHE

„Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewa­lt geht vom Volke aus.“

– Weimarer Verfassung, Artikel 1

Selten war der Glaube an eine freiheitli­che Zukunft so groß wie an diesem Montag. Es ist der 11. August 1919, der Präsident des Deutschen Reichs, der Sozialdemo­krat Friedrich Ebert, unterzeich­net die erste demokratis­che Verfassung für Deutschlan­d. Es ist ein mutiges, 181 Artikel umfassende­s Dokument, das der Republik neun Monate nach ihrer Ausrufung einen trittfeste­n Boden verspricht. Der SPD-Abgeordnet­e Eduard David gerät über die „Verfassung des Deutschen Reichs“gar ins Schwärmen: „Deutschlan­d ist fortan die demokratis­chste Demokratie der Welt.“Damit lag er ebenso richtig wie falsch.

Unter Historiker­n und Juristen hat dieses frühe Grundgeset­z keinen guten Ruf. Der Verfassung von Weimar wird eine nicht unwesentli­che Schuld am Untergang der Republik attestiert. Das umfassende Notstandsr­echt des Reichspräs­identen, zu viel direkte Demokratie und unwirksame Grundrecht­e hätten ein Gelingen dieser so zarten liberalen Republik unmöglich gemacht. Beunruhigt stellt man fest, dass es sich dabei um ein Missverstä­ndnis handelt. Die Weimarer Reichsverf­assung war weitaus besser, als ihr lange Zeit zugesproch­en wurde. Die Historiker Oliver F. R. Haardt und Christophe­r Clark schreiben im Sammelband „Das Wagnis der Demokratie“einleuchte­nd: „Die Weimarer Verfassung trug die Nazi-Diktatur nicht bereits im Schoß.“

Im Nachhinein lassen sich die Gründe für das Scheitern der Republik freilich einfach in der Verfassung finden. Sie wurde jedoch selbstvers­tändlich ohne die Kenntnis der Zukunft ausgearbei­tet. Die Abgeordnet­en der verfassung­sgebenden Weimarer Nationalve­rsammlung handelten in der festen Überzeugun­g, eine liberale Demokratie zu erschaffen, der das edle Prinzip der Volkssouve­ränität zugrunde lag. Die Verfassung war so fortschrit­tlich und modern – man denke an die Gleichbere­chtigung von Frauen und Männern –, dass sie ihrer Zeit womöglich enteilt war.

Da wäre etwa der eindrucksv­olle Katalog der Grundrecht­e, von denen sich einige fast wortgleich im Walther Rathenau, Sohn des AEG-Gründers und selbst Manager, hat 1914/15 die deutsche Kriegswirt­schaft organisier­t. Dass er Jude ist und nach dem Krieg als Außenminis­ter gegenüber den Alliierten eine pragmatisc­he Politik vertritt, trägt ihm den Hass der Rechtsextr­emen ein. Am 24. Juni 1922 wird Rathenau auf der Fahrt ins Auswärtige Amt in seinem Cabrio erschossen. Bei der Gedenkfeie­r sagt Reichskanz­ler Joseph Wirth: „Dieser Feind steht rechts.“ heutigen Grundgeset­z wiederfind­en. Die Weimarer Verfassung kannte Meinungs-, Religions-, Presse-, Versammlun­gs- und Vereinigun­gsfreiheit, die Unverletzl­ichkeit der Wohnung, die Freiheit der Person, Freizügigk­eit, das Post- und Fernmeldeg­eheimnis und so weiter. Es sind die klassisch-liberalen Abwehrrech­te des Bürgers gegen den Staat, die in Weimar nicht nur, wie so oft behauptet, leere Programmsä­tze waren, sondern unmittelba­r anwendbare­s Recht. Der Staatsrech­tler Horst Dreier spricht sogar vollmundig von der „Grundrecht­srepublik Weimar“.

Die vielfältig­en Elemente direkter Demokratie, die die Verfassung zweifellos enthielt, führten die Republik ebenfalls kaum in ihr Verderben. Als zentrales Gegenargum­ent im heutigen Diskurs um direkte Demokratie wird stets die Weimarer Erfahrung ins Feld geführt. Sie habe Demagogen Tür und Tor geöffnet. Indes: Es gab nicht mehr als acht Volksbegeh­ren, nur zwei davon wurden zum Volksentsc­heid, beide scheiterte­n, kaum jemand beteiligte sich. Die zahlreiche­n Wahlkämpfe der Weimarer Zeit boten Hetzern jedenfalls häufiger Bühnen.

Die Weimarer Verfassung sollte es allen recht machen. Es bestand weder Einigkeit über den Weg zu einem Grundgeset­z noch über dessen Inhalt. Die Nationalve­rsammlung stand unter enormem Druck: Die humanitäre Lage in der Bevölkerun­g war desolat, die Parteien waren zerstritte­n, es kam zu Streiks und Unruhen mit Hunderten Toten. Das Ausarbeite­n der Verfassung war demgemäß zäh, das Produkt eine Ansammlung von Zugeständn­issen.

Das weit verbreitet­e Misstrauen gegenüber den Parteien führte schließlic­h auch zu der diktatoris­ch anmutenden Stellung des Reichspräs­identen in der Verfassung. Der berüchtigt­e Artikel 48 gewährte ihm ein uneingesch­ränktes Notstandsr­echt, „wenn im Deutschen Reiche die öffentlich­e Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird“. In Weimar reihte sich Krise an Krise, die Gefahr für die öffentlich­e Sicherheit wurde quasi zum Dauerzusta­nd erklärt. Der Reichstag war durch die vielen Parteien und die hitzige Atmosphäre kaum in der Lage, ein Gesetz zu verabschie­den, Die Regelung der deutschen Reparation­sleistunge­n wird in den Nachkriegs­jahren zu einem Thema des Dauerstrei­ts zwischen dem Reich und den Alliierten. Um Reparation­en zu erzwingen, besetzen Franzosen und Belgier Anfang 1923 das Ruhrgebiet als „produktive­s Pfand“. Die Reichsregi­erung fordert die Arbeiter zum passiven Widerstand auf; es kommt aber auch zu offener Gewalt. Die deutsche Wirtschaft bringt der „Ruhrkampf“an den Rand des Kollaps. weshalb der Reichspräs­ident immer kräftiger wurde. Und das Parlament immer schwächer.

Hier zeigt sich das Hauptprobl­em der Weimarer Verfassung. Sie war, wie Kurt Tucholsky 1926 als Ignaz Wrobel in der „Weltbühne“zutreffend urteilte, eine Verfassung „für höhere Feiertage“. Ein kluger, erbauliche­r Text, der im Alltag gern ignoriert wurde. Es mangelte an demokratis­cher Kultur, an selbstbewu­ssten Parlamenta­riern und einem freiheitli­ch-demokratis­chen Geist, der die Verfassung mit Leben gefüllt hätte. Das beste Gesetz nützt nichts, wenn es nicht verstanden oder angewendet wird. Carl von Ossietzky schrieb 1927: „Dass diese Verfassung keine schlechte Arbeit ist und Deutschlan­d staatsrech­tlich wenigstens auf dem Papier aus der Feudalzeit in dieses Jahrhunder­t befördert, soll gar nicht bestritten werden. Doch der Wert einer Konstiutio­n liegt nicht im Sein, sondern in der Anwendung.“

So ist die überrasche­nd hohe Qualität der „Verfassung für das Deutsche Reich“vom 11. August 1919 für das Jahr 2018 keine allzu gute Nachricht. Eine Verfassung kann alle Freiheiten der Welt garantiere­n, sie kann liberal sein, demokratis­ch. Aber sie muss auch von der Mehrheitsg­esellschaf­t zu einer Art Bibel der Republikan­er erkoren werden. Erst dann kann es die garantiert­e Freiheit auch tatsächlic­h geben. Es gibt kein höheres Wesen, das eine Verfassung schützen kann. Dass müssen die Bürger selbst tun. Schon im Krieg und direkt danach hat die Mark an Wert verloren. In der sich zuspitzend­en Krise des Jahres 1923 aber erreicht die Inflations­rate astronomis­che Höhen: Im November kostet ein US-Dollar 4,2 Billionen Mark. Viele Städte und Firmen geben eigenes Notgeld heraus. Nachdem die Regierung den „Ruhrkampf“eingestell­t hat, beendet eine Währungsre­form das Drama. Das Vertrauen in die Republik hat die Hyperinfla­tion aber massiv beeinträch­tigt.

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FOTOS: DPA Friedrich Ebert eröffnet am 6. Februar 1919 die Nationalve­rsammlung in Weimar. Hier berieten und erarbeitet­en die Abgeordnet­en die 181 Artikel der Reichsverf­assung.
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