Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Er legte Wert auf echte Qualität. Seine Sachen mischte er sich aus Prinzip selbst. Da konnte er wenigstens sicher sein, dass nur die besten Zutaten drin waren. Anfangs hatte er im Internet Anregungen gefunden, aber mittlerweile brauchte er so etwas nicht mehr. Seine Mischungen waren etwas ganz Besonderes und auf keinen Fall käuflich zu erwerben. Es musste legal bleiben, er hatte kein Interesse daran, sich seine Karriere mit einem Dealerdelikt zu vermasseln. Sein Lebensplan sah anders aus.
Er nahm das Zeug in erster Linie, um den Sex zu optimieren. Wenn man wie Jasper in Kalifornien aufgewachsen war, kannte man die Regeln. Mädchen waren nicht ohne lange Vorverhandlungen zu haben. Ein falscher Griff, ein falsches Wort, und man ging unkalkulierbare Risiken ein. Er hatte das schon in der Highschool gelernt, eine dieser Hysterikerinnen hätte ihn beinahe sein Abschlusszeugnis gekostet. Beim Studium in Stanford waren die Karten dann neu gemischt worden. Die Superreichen zahlten ein Vermögen, damit ihre Brut dort unter Kontrolle blieb. Aber Jasper hatte bald herausgefunden, dass alle letztlich nichts anderes wollten, als die Kontrolle zu verlieren. Am Wochenende, wenn sie sich gemeinsam volldröhnten, konnte er mit den Töchtern von Stanford alles machen. Bis Montagmorgen. Das war der Deal, und für diesen Deal war Jasper im Nebenstudium zum gefragten Chemiker geworden. Kein Mensch sah ihm und den Frauen das Wochenende an.
Als er das Bill-Gates-Stipendium für Cambridge bekommen hatte, war er auch ohne Drogen tagelang high gewesen. Es war ein Volltreffer, ein echter Lottogewinn. Trotzdem hatte er sich dann doch Sorgen gemacht, ob der Kulturtransfer funktionieren würde. Seinen Lebensstil wollte er auf keinen Fall ändern, und er kannte den englischen Markt nicht. Sicher, englische Frauen galten als allzeit bereit, das war nicht das Hauptproblem. Das Problem war, ob er auf der Insel die nötigen Zutaten für seinen Eigenverbrauch bekommen würde. Er hatte tagelang im Internet recherchiert und war dann durch Zufall auf einen Artikel gestoßen, der behauptete, jeder dritte Cambridgestudent würde dealen, um sein Studium zu finanzieren. Es war zwar die Meldung eines obskuren Blogs gewesen, aber es hatte ihn beruhigt. Selbst wenn nur jeder Zehnte dealte, schienen die Grundnahrungsmittel offensichtlich vorhanden zu sein.
Trotzdem hatte es dann doch etwas gedauert, bis Jasper in Cambridge den richtigen Mann gefunden hatte. Einen Chemielaboranten mit Zugang zu allem, was man so brauchte. Sie waren sich relativ schnell einig geworden, und Jasper hatte eine übertrieben vorsichtige Übergabemethode entwickelt. Wahrscheinlich wäre sie gar nicht nötig gewesen, aber sie erschien ihm einfach stilvoller. Anstatt sich das Zeug in einem versifften Pub auf der Toilette zuzustecken, hinterlegte der Laborant es einmal die Woche in der Universitätsbibliothek.
Die Bibliothek hatte Jasper von Anfang an angezogen. Nicht unbedingt der Inhalt, Bücher waren für ihn mit Arbeit verbunden, die man erledigen musste. Aber der Bau an sich war genial. Es war ein faschistoid aussehendes Dreißigerjahre-Gebäude, pompös und düster. Er empfand es als besonders gute Pointe, in den phallisch aussehenden Turm, der im Zentrum dieses Monsterbaus prangte, hinaufzusteigen und im entlegensten Winkel zwischen zwei Bücherregalen seine Zutaten abzuholen. Es war einfach reizvoll, diesen kleinen Deal direkt in den hehren Hallen eines Universitätsgebäudes zu erledigen.
Jasper hatte das bis jetzt ohne Probleme gehandhabt. Bis Hunt plötzlich auftauchte.
Er hatte bei Professor Hunt von Anfang an ein schlechtes Gefühl gehabt. Hunt schien kaum Interesse an ihm, seinen Ideen oder seiner Arbeit zu haben. Er war ein englischer Snob, der in seinem Antiquitätenzimmer Hof hielt und dort von einer Phalanx von Etonstudenten angeschleimt wurde. Es war ganz offensichtlich, dass er David bevorzugte. Der sah aus wie eine jüngere Hunt-Version und war auch sonst in jeder Hinsicht eine Kopie des Meisters. Die beiden schienen sich, selbst wenn sie nicht redeten, in einer permanenten Konversation miteinander zu befinden. Manchmal warfen sie sich in einem Seminar Blicke zu wie zwei verschworene Schwuchteln. Jasper fand es ekelhaft. Er war es nicht gewohnt, in der zweiten Reihe zu stehen.
Vielleicht wäre er doch noch irgendwie an Hunt herangekommen, wenn er am 31. Oktober eben nicht zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen wäre. Die Chancen dafür standen eins zu zehntausend. Jasper wählte jedes Mal eine andere Stelle der Unibibliothek aus und textete der Laborratte dann die Büchertitel zu. Es waren immer besonders obskure Bücher, die seit 1952 mit Sicherheit kein Mensch mehr ausgeliehen hatte.
Die Topografie der Bibliothek kam ihm dabei entgegen. Es gab unzählige Gänge, verschachtelte Wendeltreppen und tote Winkel. Laut Studentengerüchten existierten so viele dunkle Ecken in dieser Bibliothek, dass man hier irgendwo ins Koma fallen konnte und erst nach einer Woche gefunden wurde. Auch unbeobachteter Sex wäre hier jederzeit durchführbar gewesen. Jasper hatte noch nie ein Paar dabei gesehen, aber es schien durchaus möglich zu sein. In den 1970er-Jahren war es laut Gerüchten in dieser Hinsicht besonders wild zugegangen. Es hieß, die Bibliotheksangestellten wären in den dunklen Winkeln wie Karnickel übereinander hergefallen. Wenn man heute ihre verhärmten Gesichter sah, konnte man sich das kaum mehr vorstellen. Professor Hunt gehörte zu dieser verblühten Siebzigerjahre-Generation. Er musste damals Student gewesen sein und hatte sich sicher nichts entgehen lassen. Vielleicht kannte er daher die allerletzten Winkel dieses Gebäudes so gut. Das zumindest war die einzige nachvollziehbare Erklärung, warum er zu Jaspers Entsetzen plötzlich in der Abteilung Naturwissenschaften auftauchte. An diesem Regal im hintersten Eck. Was machte ein Historiker an so einem Ort? Hunt stand da mit seinem Cäsarenkopf und gab ein dröhnendes „Immer im Einsatz, Jasper!“von sich. Jasper war davon so überrascht, dass ihm das Buch aus der Hand fiel. Hunt blickte auf das offene Buch mit den herausgefallenen Röhrchen und setzte dann sein dämlich-ironisches Lächeln auf.