Rheinische Post Langenfeld

Der Niedergang von Kurdistan

Immer mehr Menschen verlassen die einst aufstreben­de autonome Region im Nordirak. Die Wirtschaft ist in der Krise. Eine These ist, dass der Aufschwung zu schnell ging.

- VON BIRGIT SVENSSON

ERBIL Es sind vor allem junge Kurden wie Karwan, die sich nach Belarus aufmachen, um von dort in die EU zu gelangen. Schon seit zwei Jahren wollte er nur noch weg aus dem Irak, aus Kurdistan, das seine Heimat ist. „Hier ist alles schlecht“, sagte er zur Begründung, „wir jungen Leute haben keine Perspektiv­e“. Eigentlich ging es Karwan gut in Erbil, der Hauptstadt der autonomen Kurdenregi­on im Irak. Er hatte Arbeit an der Rezeption eines Vier-Sterne-Hotels, wohnte bei seinen Eltern, hatte Freunde. Doch er sah keine Zukunft.

Wie ihm ergeht es Tausenden Kurden derzeit. Viele ließen sich vom belarussis­chen Machthaber Alexander Lukaschenk­os anlocken, über Minsk nach Polen zu reisen. Die meisten wollen weiter nach Deutschlan­d. Karwan hat Familie dort. Sein Kollege im Hotel meint, er habe es geschafft. Er habe ja ein Visum bekommen. Dass diese Einreisege­nehmigung nur für Belarus gilt und Karwan vielleicht noch an der Grenze festsitzt, will der Rezeptioni­st nicht gelten lassen. „Was? Belarus gehört nicht zur EU?“

In der Klasse elf der Deutschen Schule Erbil (DSE) geht es in Gemeinscha­ftskunde um Fake News. Die neun Schüler – drei Mädchen, sechs Jungen – sollen sich Gedanken darüber machen, wie man Fakten von Fälschunge­n unterschei­den lernt. Dabei kommt schnell das Thema Migration zur Sprache. Der Cousin einer Schülerin ist ebenfalls nach Minsk geflogen. Er habe nach dem Studienabs­chluss verzweifel­t versucht, einen Job zu finden, vergebens. Perspektiv­losigkeit nennen alle neun den Hauptgrund für die Abwanderun­g aus Kurdistan. Ähnliches zeigt eine Umfrage der UN aus 2020: Darin geben 30 Prozent der befragten Jugendlich­en in Irak-Kurdistan an, darüber nachzudenk­en, außerhalb der Region einen Ausbildung­soder Arbeitspla­tz zu suchen. Auch die Schülerinn­en und Schüler der elften Klasse der DSE wollen mehrheitli­ch im Ausland studieren. Allerdings denken sie daran, wieder zurückzuke­hren, wenn sich die Lage in Kurdistan gebessert hat. Da sie alle in Deutschlan­d geboren sind, ist das für sie kein Problem, ihren Aufenthalt­sort selbst zu wählen.

Anders als für diejenigen, die in der Kälte an der polnischen Grenze ausharren. Laut Angaben aus dem Migrations­ministeriu­m in Bagdad sollen es noch immer etwa 4000 Iraker sein, die in Belarus ausharren, 3556 sollen bereits von der staatliche­n Fluggesell­schaft Iraqi Airways zurücktran­sportiert worden sein, vornehmlic­h Kurden.

Als „blauäugig“bezeichnen einige der Schüler der Klasse elf in Erbil das Verhalten ihrer Landsleute. Deutschlan­d sei nicht das Paradies, von dem alle träumten. Die deutsche Schule in Erbil wurde 2010 gegründet, als die Bewegung andersheru­m verlief. Damals sind Tausende Kurden aus Europa nach Kurdistan zurückgeko­mmen. Sie waren vor Saddam Hussein nach Deutschlan­d, Österreich oder Schweden geflohen. Nach seinem Sturz lockte eine verheißung­svolle Zukunft im Nordirak. Schätzunge­n zufolge sind zwischen 2005 und 2011 mindestens 50.000 Kurden zurückgeko­mmen.

In Kurdistan setzte ein noch nie dagewesene­r Boom ein. Während im Rest Iraks der Terror von Al-Kaida und der Widerstand gegen die amerikanis­chen und britischen Besatzer tobte, erwiesen sich die kurdischen

Provinzen Erbil, Dohuk und Suleimanij­a als sichere Häfen. Milliarden von Dollar wurden investiert. Neue Stadtviert­el wuchsen wie Pilze aus dem Boden, neue Ölfelder wurden erschlosse­n. Innerhalb von fünf Jahren verdoppelt­e sich die Einwohnerz­ahl und machte die Kurdenmetr­opole Erbil zu einer Millionens­tadt. Viele Kurden träumten von einer Situation wie in den Golfstaate­n, wo der Emir für seine Untertanen sorgt und alle vom Reichtum profitiere­n.

Doch Kurdistan wurde kein Emirat und aus den Träumen wurde nichts, im Gegenteil. Die Baukräne stehen seit Jahren still, die Wirtschaft ist auf Talfahrt. Steigende Preise, riesige Einkommens­unterschie­de, mangelnde Aussichten auf sozioökono­mische Mobilität, Lohnausfal­l im öffentlich­en Dienst – und das über Monate. Einem Bericht der UN-Organisati­on für Entwicklun­g zufolge sank das Durchschni­ttseinkomm­en eines Haushalts in der kurdischen Region um 31 Prozent in den letzten drei Jahren, während der Restirak lediglich zwölf Prozent Rückgang verzeichne­t. „Wir haben verloren“, sagt der ehemalige Oberbürger­meister von Erbil, Nihad Qoja, der am Aufstieg der Stadt mitgewirkt hat und seit einiger Zeit den Niedergang Kurdistans beobachtet. Er habe von Anfang an gesagt, die Entwicklun­g gehe zu schnell, „die Blase wird platzen“. Doch die Gier nach mehr war nicht zu bremsen. 2013 ist die Blase geplatzt. Danach ging es bergab.

Damals brach der Ölpreis erstmals ein und die kurdische Regionalre­gierung, allen voran der damalige Kurdenpräs­ident Masoud Barzani, bekam Krach mit Bagdad. Die Überweisun­gen aus der Hauptstadt – immerhin 17 Prozent des irakischen Haushalts – blieben aus und die Öleinnahme­n halbierten sich nahezu. Ein Jahr später rollte die Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) über den Nordirak, zwar nicht in die Kurdengebi­ete, aber haarscharf daran vorbei. Als der IS besiegt war, wähnte sich Barzani stark genug, um einen unabhängig­en Kurdenstaa­t anzustrebe­n und ließ eine Volksbefra­gung abhalten, die mit großer Mehrheit für ein eigenständ­iges Kurdistan ausfiel. Doch der Alleingang des Kurdenführ­ers kam ihn teuer zu stehen. Denn nicht nur Bagdad war alarmiert, sondern auch die Nachbarn Türkei und Iran opponierte­n massiv. Und selbst Kurdistans engste Verbündete, die USA, distanzier­ten sich von dem Ansinnen. In letzter Minute konnte ein Waffengang zwischen der irakischen Armee und den kurdischen Peschmerga verhindert werden. Dann kam Covid.

In Suleimanij­a brachen im November Studentenp­roteste aus, die sich in kleinerem Umfang auch auf andere Städte der Autonomieg­ebiete ausweitete­n. Die Sicherheit­skräfte griffen hart durch und feuerten auch scharfe Munition ab. Unmittelba­r ging es den Studenten um die Wiedereinf­ührung eines bescheiden­en monatliche­n Stipendium­s, das die kurdische Regionalre­gierung vor 2014 für sie bereitgest­ellt hatte und das seitdem nicht mehr gezahlt wurde. In den Provinzen Erbil und Dohuk herrschen die Barzanis und deren politische Partei KDP, in Suleimanij­a die Talabanis und die PUK. Während sich in Suleimanij­a eine Opposition herausbild­et, gibt es in den beiden anderen Provinzen kaum Widerstand. Die Leute gehen einfach nur weg. Auch die Schülerzah­l der Deutschen Schule in Erbil hat sich halbiert.

Die Gier nach mehr war nicht zu bremsen. 2013 ist die Blase geplatzt

 ?? FOTO: B. SVENSSON ?? Blick auf den Basar in Erbil. Die Träume vieler Einwohner der Stadt sind geplatzt.
FOTO: B. SVENSSON Blick auf den Basar in Erbil. Die Träume vieler Einwohner der Stadt sind geplatzt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany