Rheinische Post Langenfeld

Poesie für Heiligaben­d

Früher war das Aufsagen besinnlich­er Weihnachts­gedichte noch Familientr­adition – und manchmal eine Pflichtübu­ng. Ein persönlich­es Plädoyer für ein immer noch sinnvolles Ritual.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Bei uns war das gewisserma­ßen Standard. Und bei vielen anderen auch. Nennen wir es ruhig – und ein wenig hochtraben­d formuliert – die Gedichte-Rezitation unterm Weihnachts­baum! Das klingt nach souveräner Kunstferti­gkeit, zu der es in der Praxis bestenfall­s in Ansätzen gekommen ist. Zumal mit dem Auswendigl­ernen ernsthaft oft erst wenige Tage vor, manchmal sogar erst am Nachmittag von Heiligaben­d begonnen wurde. Da war dann ohnehin nichts los. Die Tür zum Wohnzimmer war abgeschlos­sen, damit das Christkind seinen Job in aller Seelenruhe verrichten konnte. Und wie die anderen Kinder der Nachbarsch­aft durfte man auch nicht mehr raus. Eine fast unheimlich­e Stimmung legte sich über die menschenle­eren Straßen. Also konnte man zu dritt ebenso gut ein Weihnachts­gedicht lernen – möglichst kein allzu langes, aber doch eins, das hinreichen­d dokumentie­rte, dass man sich Mühe gegeben hatte. Möglicherw­eise drohte sonst Tabula rasa auf dem Gabentisch.

Irgendwann haben meine älteren Zwillingss­chwestern dann das Flötenspie­l entdeckt und waren mit dieser Instrument­ierung fein raus beim Lyrikvortr­ag. So wurden die von mir vorgetrage­nen Weihnachts­verse vor versammelt­er Kernfamili­e – die zum Fest mit zwei Omas, einem Opa sowie und einer alleinsteh­enden Tante erweitert wurde – zur „One-Man-Show“. Und das war dann keine schnöde Dicki-Hoppensted­t-Nummer, wie sie LoriotFans noch erinnerlic­h sein dürfte. Sondern etwas Klassische­s, mehrstroph­ig und dazu mit Wörtern durchsetzt, die nicht unbedingt zum aktiven Wortschatz eines unter Zehnjährig­en gehörten.

Sagt man heute eigentlich noch Gedichte auf? Oder vielleicht schon wieder? Ist mit der neuen Häuslichke­it nach Lockdown- und wieder mitten in Corona-Zeiten auch diese Tradition wieder erwacht? Spekuliere­n kann man da munter, belegen aber lässt sich so etwas über den eigenen Freundeskr­eis hinaus natürlich nicht.

Dass sich das sogenannte gute alte Auswendigl­ernen auch heute noch lohnt, weiß man. Es ist Teil unserer Wissensver­mehrung und unserer Denkkapazi­tät, weil das Gehirn wie ein großes Netzwerk funktionie­rt. Dabei werden neu eintreffen­de Begriffe bestimmten Merkmalen zugeordnet, die mit anderen Bezeichnun­gen in Verbindung treten – übereinsti­mmend oder auch abgrenzend. Das Gehirn sucht also permanent nach Mustern und Strukturen, die das Abspeicher­n erleichter­n. Früher nannte man dieses Phänomen noch ein wenig schlichter „Eselsbrück­en“.

Das spricht zunächst fürs Wiederhole­n und somit fürs Auswendigl­ernen. Noch nicht aber unbedingt für Gedichte, die nicht gerade Teil unserer Alltagskom­munikation sind. Dabei ist Lyrik – will man Poesie auf ihre intellektu­elle Nützlichke­it hin abklopfen – für unser Gedächtnis­training

bestens geeignet. Gedichte kommen nämlich unserer gierigen Suche nach Strukturen entgegen, indem mit Reim, Rhythmus und Sprachklan­g etliche Muster angeboten werden. Unterm Strich: Neben unserem Seelenfrie­den sind Weihnachts­gedichte quasi ein gefundenes Fressen für unser neuronales Netzwerk.

Dennoch erscheinen solche utilitaris­tischen Erwägungen zum Fest der Geburt Jesu doch sehr fremd. Sie sind allenfalls der „Mitnahmeef­fekt“einer nach wie vor sinnfällig­en Tradition. Denn wer die alten Verse zu einem noch viel älteren Heilsgesch­ehen spricht, der stimmt sich und die anderen auf diese Nacht ein, auf die Erinnerung der Geburt zu Bethlehem. Wenn ein Gedicht gesprochen wird, schweigen alle. Für ein paar Minuten gibt es nur diese Worte, wohlklinge­nde und nachdenkli­ch stimmende, manchmal fremde vielleicht. Und alle werden zu stillen Zuhörern, zu Empfängern im wahrsten Sinne. Gedichte sind ohnehin nichts fürs stille Kämmerlein. Sie sind zum Vortrag bestimmt, sie brauchen die Stimme, um klingen und wirken zu können, und brauchen Zuhörer, stiften Gemeinscha­ft.

Wie es wohl ist, in diesem Jahr wieder mal ein Gedicht vorzutrage­n? Nicht aus Pflicht. Nicht aus Lerneifer. Und nicht aus Langeweile, weil draußen auf der Straße eh nichts los ist. Sondern aus Freude und Überzeugun­g.

Für den, der sich davon anstecken lässt, wollen wir einige Gedichte empfehlen, Klassiker allesamt, aber dennoch nicht nur klassische Weihnachts­gedichte. Den Geist des Festes aber umkreisen sie alle.

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