Poesie für Heiligabend
Früher war das Aufsagen besinnlicher Weihnachtsgedichte noch Familientradition – und manchmal eine Pflichtübung. Ein persönliches Plädoyer für ein immer noch sinnvolles Ritual.
Bei uns war das gewissermaßen Standard. Und bei vielen anderen auch. Nennen wir es ruhig – und ein wenig hochtrabend formuliert – die Gedichte-Rezitation unterm Weihnachtsbaum! Das klingt nach souveräner Kunstfertigkeit, zu der es in der Praxis bestenfalls in Ansätzen gekommen ist. Zumal mit dem Auswendiglernen ernsthaft oft erst wenige Tage vor, manchmal sogar erst am Nachmittag von Heiligabend begonnen wurde. Da war dann ohnehin nichts los. Die Tür zum Wohnzimmer war abgeschlossen, damit das Christkind seinen Job in aller Seelenruhe verrichten konnte. Und wie die anderen Kinder der Nachbarschaft durfte man auch nicht mehr raus. Eine fast unheimliche Stimmung legte sich über die menschenleeren Straßen. Also konnte man zu dritt ebenso gut ein Weihnachtsgedicht lernen – möglichst kein allzu langes, aber doch eins, das hinreichend dokumentierte, dass man sich Mühe gegeben hatte. Möglicherweise drohte sonst Tabula rasa auf dem Gabentisch.
Irgendwann haben meine älteren Zwillingsschwestern dann das Flötenspiel entdeckt und waren mit dieser Instrumentierung fein raus beim Lyrikvortrag. So wurden die von mir vorgetragenen Weihnachtsverse vor versammelter Kernfamilie – die zum Fest mit zwei Omas, einem Opa sowie und einer alleinstehenden Tante erweitert wurde – zur „One-Man-Show“. Und das war dann keine schnöde Dicki-Hoppenstedt-Nummer, wie sie LoriotFans noch erinnerlich sein dürfte. Sondern etwas Klassisches, mehrstrophig und dazu mit Wörtern durchsetzt, die nicht unbedingt zum aktiven Wortschatz eines unter Zehnjährigen gehörten.
Sagt man heute eigentlich noch Gedichte auf? Oder vielleicht schon wieder? Ist mit der neuen Häuslichkeit nach Lockdown- und wieder mitten in Corona-Zeiten auch diese Tradition wieder erwacht? Spekulieren kann man da munter, belegen aber lässt sich so etwas über den eigenen Freundeskreis hinaus natürlich nicht.
Dass sich das sogenannte gute alte Auswendiglernen auch heute noch lohnt, weiß man. Es ist Teil unserer Wissensvermehrung und unserer Denkkapazität, weil das Gehirn wie ein großes Netzwerk funktioniert. Dabei werden neu eintreffende Begriffe bestimmten Merkmalen zugeordnet, die mit anderen Bezeichnungen in Verbindung treten – übereinstimmend oder auch abgrenzend. Das Gehirn sucht also permanent nach Mustern und Strukturen, die das Abspeichern erleichtern. Früher nannte man dieses Phänomen noch ein wenig schlichter „Eselsbrücken“.
Das spricht zunächst fürs Wiederholen und somit fürs Auswendiglernen. Noch nicht aber unbedingt für Gedichte, die nicht gerade Teil unserer Alltagskommunikation sind. Dabei ist Lyrik – will man Poesie auf ihre intellektuelle Nützlichkeit hin abklopfen – für unser Gedächtnistraining
bestens geeignet. Gedichte kommen nämlich unserer gierigen Suche nach Strukturen entgegen, indem mit Reim, Rhythmus und Sprachklang etliche Muster angeboten werden. Unterm Strich: Neben unserem Seelenfrieden sind Weihnachtsgedichte quasi ein gefundenes Fressen für unser neuronales Netzwerk.
Dennoch erscheinen solche utilitaristischen Erwägungen zum Fest der Geburt Jesu doch sehr fremd. Sie sind allenfalls der „Mitnahmeeffekt“einer nach wie vor sinnfälligen Tradition. Denn wer die alten Verse zu einem noch viel älteren Heilsgeschehen spricht, der stimmt sich und die anderen auf diese Nacht ein, auf die Erinnerung der Geburt zu Bethlehem. Wenn ein Gedicht gesprochen wird, schweigen alle. Für ein paar Minuten gibt es nur diese Worte, wohlklingende und nachdenklich stimmende, manchmal fremde vielleicht. Und alle werden zu stillen Zuhörern, zu Empfängern im wahrsten Sinne. Gedichte sind ohnehin nichts fürs stille Kämmerlein. Sie sind zum Vortrag bestimmt, sie brauchen die Stimme, um klingen und wirken zu können, und brauchen Zuhörer, stiften Gemeinschaft.
Wie es wohl ist, in diesem Jahr wieder mal ein Gedicht vorzutragen? Nicht aus Pflicht. Nicht aus Lerneifer. Und nicht aus Langeweile, weil draußen auf der Straße eh nichts los ist. Sondern aus Freude und Überzeugung.
Für den, der sich davon anstecken lässt, wollen wir einige Gedichte empfehlen, Klassiker allesamt, aber dennoch nicht nur klassische Weihnachtsgedichte. Den Geist des Festes aber umkreisen sie alle.