Mit der roten Pille durchs Spiegelportal
In „Matrix Resurrections“gibt es reichlich Action zwischen der Scheinrealität der Matrix und der unbarmherzigen Wirklichkeit.
„Folge dem weißen Kaninchen“– mit dieser Aufforderung aus „Alice im Wunderland“begann 1999 die Reise des Hobby-Hackers Thomas Anderson alias Neo (Keanu Reeves) in eine Welt, in der sich Sein und Schein auf drastische Weise unterschieden. Hier das vorgegaukelte Leben in der Matrix, das in seinen futuristischen Grundzügen einer verdüsterten Realität der späten 90er-Jahre ähnelte. Und dort die bittere Wirklichkeit, in der die künstliche Intelligenz die Menschheit
längst unterworfen hatte und in riesigen Silos zur Energiegewinnung bewusstlos in einem Beutel mit Nährlösung schwimmen ließ. „Matrix“von den Geschwistern Wachowski wurde der Kultfilm für das neue Jahrtausend.
Die Technik der digitalen Bildgestaltung, die heute das Blockbuster-Kino beherrscht, steckte damals noch in ihren Kinderschuhen. Peter Jacksons Digitalschlachten für „Herr der Ringe“(2001) waren noch in Vorbereitung. Aber „Matrix“und die Folgewerke „Matrix Reloaded“(2003) und „Matrix Revolutions“(2003) trieben die Entfesselung der Bilder, die die Zukunft des Kinos prägen sollte, entscheidend voran. In den zahlreichen Kampfszenen wurden die Gesetze der Physik ausgehebelt, Verfolger in freiem Lauf vervielfacht, griffen Hände durch Spiegel hindurch in andere Erzählebenen.
Aber „Matrix“war mehr als ein Actionfilm von visionärer Visualität mit coolen Heldinnen in wehenden Ledermänteln. Unter der stets brüchigen Oberfläche lauerten philosophische Diskurse, in denen Wirklichkeitskonzepte hübsch postmodern dekonstruiert wurden. Die Feuilletons überschlugen sich mit Verweisen auf Plato, Kant, Descartes und vor allem auf Jean Baudrillard, dessen Buchcover von „Simulacres et Simulation“über die totale Medialisierung der „Simulationsgesellschaft“von den Wachowskis augenzwinkernd ins Bild gerückt wurde. Bis heute gibt es kaum einen Film, in dem intellektuelle Tiefe und actiongeladenes Popcornkino einander derart eng umschlungen haben.
Aber nach zwei Sequels hatte diese Liaison ihre Frische verloren, schien der Stoff gründlich auserzählt. Nicht umsonst haben sich die Wachowskis 18 Jahre lang strikt geweigert, noch einmal die Matrix zu betreten und stattdessen Filme wie „Speed Racer“(2008) und gemeinsam mit Tom Tykwer „Cloud Atlas“(2012) gedreht.
Wenn nun in „Matrix Resurrections“doch noch eine Reanimation des nie verblassten Kultfilms auf die Leinwand kommt, ist die Erwartungshaltung gleichermaßen von Neugier und schlimmsten Befürchtungen bestimmt. Das weiß auch Lana Wachowski, die diesmal als Allein-Regisseurin fungiert, und baut den Diskurs um die Fortsetzung gleich mit ins Sequel ein. In San Francisco ist Keanu Reeves zu Beginn des Filmes der gefeierte
Game-Designer Thomas Anderson, dessen Videospiel-Trilogie „Matrix“vor 18 Jahren die Kassen klingeln ließ und auch heute noch frenetisch verehrt wird.
Nun will der Mutterkonzern „Warner“– der eben jenen Film, den wir gerade sehen, produziert hat – gegen den erklärten Willen des Autors eine Fortsetzung. Unmissverständlich macht die Firmenleitung klar, dass sie das Sequel mit ihm oder ohne ihn machen werden. Um Schlimmeres zu verhindern, willigt Anderson ein, verzweifelt aber schon beim ersten kollektiven Brainstorming. Schließlich ist er sich immer noch nicht sicher, ob das von ihm erfundene Videospiel Produkt seiner kreativen Fantasie oder eine Erinnerung an eigene Erlebnisse ist.
Sein Therapeut (Neil Patrick Harris) arbeitet mit dem Patienten geduldig an der Trennung zwischen Fiktion und Wirklichkeit und verschreibt große Mengen an blauen Pillen. Wiederauferstandene „Matrix“-Zuschauer wissen um die Bedeutung der farbigen Arznei. Damals musste sich Thomas Anderson entscheiden: Nimmt er die Blaue, bleibt er in der bequemen Scheinrealität der Matrix. Nimmt er die Rote, lernt er die unbarmherzige Wirklichkeit kennen.
Damals siegte der Erkenntnisdrang. Diesmal ist die Sache schwieriger, als die Rebellen unter der Leitung von Bugs (Jessica Henwick) durch ein Portal zur Visite kommen, um den legendären Anführer zu reaktivieren. Das derzeitige Sein ist vielleicht langweilig, aber die Rückkehr in die kriegerische Welt seiner Alpträume keine attraktive Alternative.
Und dann ist da noch Tiffany (Carrie-Anne Moss), die den Coffeeshop Simulatte betritt und nebulöse Erinnerungsgefühle freisetzt. Sie erkennt Thomas nicht wieder, weiß nicht, dass sie eigentlich Trinity heißt, hat drei Kinder und wird von ihrem Mann – unfassbar – mit Babe angesprochen. Aber als Thomas und Trinity einander die Hand geben, durchdringt die Berührung Vergangenheit und Gegenwart, Zeit und Raum, Realität und Fiktion.
Und so entschließt sich Thomas für die rote Pille, in der Hoffnung, Trinity aus der Gefangenschaft der gefälschten Wirklichkeit zu befreien. Und dann geht es los in alter Manier durch Spiegelportale in verschiedene, übereinander gelegte Erzählebenen, in ein noch ausgefeilteres Matrixsystem und eine unterirdische Rebellenstadt, in der Menschen und Maschinen friedlich miteinander leben.
Das alles hat einen hohen Erklärungsbedarf, und so wirkt die erste Stunde inhaltlich etwas überfrachtet, setzt aber auch durch augenzwinkernde Selbstreferenzen und zahlreiche Déjà-vus einiges an Humor frei. Für solide inszenierte Action-Sequenzen ist gesorgt, während im philosophischen Subtext die Fesseln der Binärität abgeworfen werden. Wir gegen sie, Echt gegen Fake, Mensch gegen Maschine – das Denken in unvereinbaren Gegensätzen ist das Matrix-Gefängnis der Gegenwart.
Lana und Lilly Wachowski, die einmal Andy und Larry hießen und heute als Trans-Frauen leben, haben sich privat aus dem binären Gender-System befreit und bauen die Erfahrung auf der Leinwand zur allgemeingültigeren Horizonterweiterung aus. Das gilt auch für das Gegensatzpaar Action versus Romantik, das im Finale auf offensiv pathetische Weise aufgelöst wird, wenn die Liebenden mit vereinter Kraft dem Kugelhagel trotzen, den Sprung wagen und in den Sonnenaufgang davonfliegen.
18 Jahre haben die Wachowskis sich geweigert, noch einmal die Matrix zu betreten
Matrix Resurrections, USA 2021 – Regie: Lana Wachowski; mit Keanu Reeves, Carrie-Anne Moss; 148 Minuten