Vorprickeln fürs Fest
Bei einer vorweihnachtlichen Tour durch die Champagne kann man sich nicht nur mit feierlichen Perlen im Glas in Stimmung für die Festtage bringen. Zwischen Champagner-Haus, Weihnachtsmarkt und Weinberg lernt man auch die Besonderheiten des berühmten Schau
Am Abend erwachen die naturfarbenen, alten Steine zum Leben. An der Rathausfassade tanzen Variété-Mädchen aus den 1920er-Jahren. Vorm Champagnerhaus „Boizel“flirren unzählige Discokugelpunkte zwischen Hauswänden und Straßenasphalt hin und her. Und bei „Pol Roger“drehen sich hochbeschleunigte Lichtkreise zu kühlen Elektrobeats, während am nahen Kreisverkehr auf einmal blau leuchtende Fischwesen über bunt strahlenden Bäumchen durch die Abendluft schweben. So wie an diesem Tag erlebt man die Avenue de Champagne im gemütlichen Kleinstädtchen Épernay an zwei ganz besonderen Abenden im Jahr. Die „Habits de Lumière“sind ein die Sinne mit bunten Illuminationseindrücken befeuerndes Spektakel, dessen Wirkung durch viel feinen Champagner aus bunten Plastikflöten noch einmal deutlich verstärkt wird. Die Installationen sind an diesem Abend auch das Rampenlicht für das geschichtsträchtige Luxusgetränk selbst, das auf der ganzen Welt Synonym für das Feiern besonderer Anlässe ist. Die nächste Champagner-Bar ist schließlich immer nur ein paar Schritte weiter – und mit dem Prickeln im Glas wird man auch gleich auf das anstehende Fest eingestimmt.
Die „Habits de Lumière“sind aber nur ein Programmpunkt auf der vorweihnachtlichen Tour durch diese Champagner-Kulturlandschaft östlich von Paris. Seit 2015 gehören sie sogar zum Welterbe der Unesco: deren Weinberge, Keller und Champagner-Häuser, die teils im 18. Jahrhundert gegründet wurden. Auch die Avenue in der „Hauptstadt des Champagners“, die von Weinbergen förmlich umzingelt ist, zählt mit den alten Châteaus, Residenzen im Neorenaissance-Stil und repräsentativen Champagner-Tempeln wie von „Moët et Chandon“dazu. Am Tag nach dem Lichtspektakel ruht die Meile an der Oberfläche wieder in der gewohnten Altehrwürdigkeit. Bei der Besichtigung der Champagner-Häuser steigt man jedoch in eine Parallelwelt hinab. Allein in Épernay soll es rund 110 Kilometer an Weinkellern geben, in denen die Schaumweine reifen – und jeder hat seine eigene Geschichte.
Das ist auch beim Champagner-Haus „Taittinger“in der Stadt Reims nicht anders, dem zweiten Zentrum des Champagners nur eine halbstündige Autofahrt über die Hügellandschaft der „Montagne de Reims“entfernt. Zwölf Meter tief unter dem Haupthaus landet man dort in den Gängen der früheren Abteikirche Saint-Nicaise, die nach der Französischen Revolution zerstört und schließlich abgerissen wurde. Weitere sechs Meter tiefer reist man auch noch weiter zurück in der Zeit – bis in römische Zeiten: Pyramidenartig in die Höhe reicht das eindrucksvolle Gewölbe, das einst ein Kreidebruch war. Bei der Besichtigung sieht man allerdings nur die Flaschen des erlesenen Jahrgangschampagners. Der Großteil der über sechs Millionen Flaschen, die pro Jahr produziert werden, lagert außerhalb von Épernay. Mit dieser Zahl ist „Taittinger“das sechstgrößte von den rund 360 Champagnerhäusern und das größte, das sich – mit kurzer Ausnahme – im Familienbesitz befindet. Die Führung endet auch bei „Taittinger“natürlich mit der Champagner-Verkostung.
Probiert werden muss immer wieder bei der Reise durch die Champagne.
Auch in vielen, mitunter einfacheren Restaurants ist die Champagner-Karte so groß wie andernorts die Weinauswahl. Wer glaubt, dass die Unterschiede zwischen Champagnern nicht sonderlich groß sind, merkt dabei mit jedem weiteren Glas schnell: Die
Bandbreite ist je nach Rebsorte, Lage und Zusammensetzung schwindelerregend. Vom jungen Schaumwein bis zur Jahrgangsflasche in Weiß und Rosé. Von der feinen Perlage bis zu den großen Bläschen. Vom frischen Apfel bis zu exotischen Früchten und Nussaromen. Von extra trocken bis halbtrocken.
Auch Julien Launois öffnet zum Schluss zwei Flaschen zum Probieren. Sein Champagner-Haus „Paul Launois“liefert einen denkbar großen Kontrast zu den globalen Akteuren. Klein ist es, und bodenständig. Und in seinem Keller mitten im Dorf Le Mesnil-sur-Oger, wo das nächste Champagner-Haus immer nur ein paar Schritte entfernt ist, produziert Launois seine Champagner ausschließlich mit eigenen Trauben. Von den begehrten 34.500 Hektar, die sich rund 16.000 Weinbauern und Champagner-Häuser in der Champagne teilen, gehören ihm knapp über sechs.
Früher verkaufte sein Vater die Ernte an die Kooperative.
Seit wenigen Jahren geht der Mittvierziger mit dem Vollbart nun seinen eigenen Weg. Anders als bei den großen Häusern, die einen Weltmarkt versorgen, experimentiert er mehr. Jeder Jahrgang schmeckt etwas anders. In seinem Keller durchläuft ein Teil der 24.000 Flaschen seines neuen Champagners eine wichtige Phase in der Herstellung: die zweite Gärung, die sogenannte Flaschengärung, die mit zugesetzter Hefe für die Perlen sorgt. Täglich müssen die Flaschen dafür über zwei Wochen gerüttelt werden, damit dieses Hefedepot langsam in den Flaschenhals wandert, wo es später beim Degorgieren entfernt wird. Launois macht das von Hand. 3500 Flaschen in rund 25 Minuten, drei Mal am Tag. „Das hier ist mein Yoga-Raum“, sagt er und lacht.
Ruckeln und Rütteln gehören auch zum Ausflug mit Maëva Garza von „My Vintage
Tour“. Sie chauffiert ihre Gäste mit einem Renault Estafette Alouette durch die Weinberge: einem charmanten Oldtimer namens Louise, Jahrgang 1980. Nach einer kurzen Fahrt stoppt sie auf einem Hügel im „Montage de Reims“. „Hier wird vor allem Chardonnay angebaut“, erklärt sie dort an einem Weinberg. „Zusammen mit Pinot Noir und Pinot Meunier gehört sie zu den Hauptrebsorten der Champagne.“Egal, um welche es sich aber handelt: Karg, nackt und winterschläfrig sehen sie im Dezember alle aus. Doch selbst in dieser Zeit wird im Weinberg eifrig gearbeitet, die Reben werden von Hand zurückgeschnitten. In Maëvas Erklärungen wird einmal mehr deutlich, warum Champagner kostspieliger und exklusiver als andere Schaumweine ist: Die Produktion ist ein aufwändiger Ganzjahresjob im Weinberg und im Weinkeller. Für die Herstellung gelten bis heute strenge Regeln. Sie wurden 1927 festgelegt, nachdem Champagnerhäuser die Trauben anderswo eingekauft hatten, weil die Ernte durch die Reblaus zerstört war.
Zurück in Reims endet der Oldtimer-Ausflug am Weihnachtsmarkt. Die Temperatur dort verlangt eigentlich nach Glühwein. Viele Besucher zieht es trotzdem in die Zelte mit Champagnerbars. Statt Bing Crosby kommt dort Pop aus den Lautsprechern. Von der Decke wärmen Heizpilze. In der Flöte perlt kühl der Champagner, während sich draußen die gotische Kathedrale Notre-Dame, die zu den Weltkulturerbestätten der Stadt zählt, im Hintergrund erhaben aufbaut. Über viele Jahrhunderte wurden in dem imposanten Bau die französischen Könige gekrönt, die schnell Gefallen fanden an diesem besonderen, schäumenden Wein – und ihn bei Adligen und Wohlhabenden beliebt machten.
Wie das Prickeln in die Flaschen kam, darum ranken sich zwar einige Legenden. Ist es Mönchen zu verdanken, die bei der Weinherstellung auf den glücklichen Zufall stießen? Oder doch der berühmte Benediktiner-Mönch Dom Pérignon der Erfinder, der sich um den Champagner einst sehr verdient machte? Falls ja, hat er die Gewissheit darüber mit ins Grab genommen, das bis heute in der Abteikirche Saint-Sindulphe im Dörfchen Hautvillers zu sehen ist. An der Wirkung des Champagners ändert das alles nichts. In angenehm berauschte Feierlaune bringt er so oder so.