Schwedens Militär räumt auf
In der Soldaten-Ausbildung des skandinavischen Landes sind die Missstände so groß, dass nun 500 Rekruten nach Hause geschickt wurden. Die Rede ist von psychischen und körperlichen Misshandlungen, Rassismus und Homophobie.
STOCKHOLM Schweden ist im Ausland für Toleranz, Offenheit und Fortschritt bekannt. Doch aktuell erschüttert ein Skandal die Gesellschaft des Landes im Norden Europas: Die Soldatenausbildung steht im Kreuzfeuer der Kritik. Von teils schweren psychischen und körperlichen Misshandlungen ist die Rede, von unangemessenen Strafen, von Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Homophobie. Erstmals räumte die Militärführung jetzt selbst ein, dass es „strukturelle Probleme“gebe.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hatte berichtet, dass 500 Wehrpflichtige des Kommandoregiments in Enköping nach Hause geschickt wurden, nachdem es zwischen Rekruten, vor allem aber zwischen Rekruten und Ausbildern zu schweren Verstößen gekommen sein soll. Ein namentlich nicht genannter Ex-Rekrut, der im vergangenen Jahr angeworben worden war, hatte sich zu Wort gemeldet und berichtet, dass die Probleme bereits seit längerer Zeit bestehen.
Laut einem der Zeitung „Dagens Nyheter“vorliegenden internen Bericht finden unter anderem regelmäßig kollektive Bestrafungen der Rekruteneinheiten für Verstöße Einzelner statt. Hierzu gehörten beispielsweise der Entzug von Lebensmitteln und der Zwang zur Teilnahme an Aktivitäten trotz Verletzungen, die von den Ausbildungsoffizieren angeordnet worden seien. Außerdem herrsche ein von unverhältnismäßiger Aggressivität, Rassismus, Homophobie und Frauenverachtung geprägter Ton. Ein Rekrut berichtet beispielsweise, er sei von Ausbildern grundlos auf den Kopf geschlagen worden. Die Offiziere hätten bei Übungen gesagt, dass jeder, der beim Bankdrücken nicht mehr als 100 Kilogramm stemmen könne, schwul sei.
„Das ist unglaublich ernst“, kommentierte der Kommandant jener Einheit auf Anfrage schwedischer Medien die erhobenen Vorwürfe. Berichte wie diese seien allerdings nicht neu: „Wir arbeiten schon seit vielen Jahren beispielsweise durch Schulungen der Verantwortlichen an diesem Problem. Aber da es immer noch besteht, haben wir nun weitere Gespräche geführt und in der vergangenen Woche einen Bericht erhalten. Wir sehen, dass es einige wenige Personen gibt, die sich so verhalten, aber es gibt auch eine Kultur des Schweigens, in der dieses Verhalten zwar gesehen, aber nichts dagegen unternommen wird“, so Militärsprecherin Therese Timpson.
Nach Angaben des Pliktrådet, einer Organisation aller Streitkräfte in Schweden, wurden auch in diesem Herbst wieder „Unregelmäßigkeiten“festgestellt, berichtet die Zeitung „Dagens Nyheter“. Die Wehrpflichtigen, die den Mut gehabt hätten, Probleme anzusprechen, seien von den Ausbildern vor den anderen lächerlich gemacht worden. Ihnen sei empfohlen worden, nicht zu jammern, so ein Sprecher des Pliktrådet. Die Wehrpflichtigen hätten kränkendes Verhalten erleben müssen, sowohl unter den Wehrpflichtigen als auch von den Offizieren, heißt es weiter.
Warum sich Vorfälle wie diese trotz jahrelanger Initiativen und Kampagnen, etwas dagegen zu unternehmen, in den Ausbildungseinheiten der Streitkräften immer wieder zutragen und die Situation offenbar weiter eskaliert, kann Pressesprecherin Timpson nicht beantworten. „Das ist eine gute Frage“, sagt sie nur. Und betont: Es gebe nur einige wenige, die sich nicht richtig verhielten. Es handele sich nicht um ein breites, grundsätzliches Problem.
Der Eindruck ist ein anderer. Erstmals hat der Chef des größten Regiments in Schweden, Johan Axelsson, jetzt im Fernsehen von einem „strukturellen Problem“gesprochen. „Wir streben eine Nulltoleranz gegenüber unangemessenem Verhalten an und wollen daher unverzüglich Maßnahmen ergreifen“, erklärte er. Dies sei auch der Grund, warum man jetzt gehandelt und die Wehrpflichtigen nach Hause geschickt habe. Axelsson gibt erstmals offen zu, dass die Wehrpflichtigen während ihrer Ausbildung einer „destruktiven Führung“ausgesetzt gewesen seien. Dazu habe auch gehört, dass sie zu wenig Schlaf und zu wenig Essen bekommen hätten sowie einer, wie er es nennt, „zu hohen Arbeitsbelastung“ausgesetzt gewesen seien. Auch Axelsson sprach davon, dass die Schweigekultur beim Kommandoregiment in Enköping dazu beigetragen habe, dass die Situation in den vergangenen Monaten dort immer schlimmer geworden sei. „Unsere jüngste interne Untersuchung zeigt, dass diese Mentalität, offensichtliche Missstände nicht offen anzusprechen, wirklich allumfassend ist“, so der Regimentschef weiter. Dies betreffe nicht nur die Ausbildungsebene der Offiziere, sondern Ebenen im gesamten Regiment. „Um das Problem sofort anzugehen und zu lösen, haben wir beschlossen, die Wehrpflichtigen nach Hause zu schicken und zu beraten“, sagte er schwedischen Medien. Doch auch er versucht abzuwiegeln. „Die einzelnen Verstöße und Vorfälle sind individueller Natur auf einer individuellen Ebene“, betont er. Gleichzeitig gibt er zu: „Was strukturell bedingt ist, ist die Kultur des Schweigens, die diese Verhaltensweisen schützt. Das ist es, was wir verändern wollen.“