„Die Taliban wollen die Hilfe des Westens“
Der Gründer der Organisation „Stelp“verteilt in Afghanistan Lebensmittel und Medikamente. Er berichtet über die Situation vor Ort.
Herr Eren, Sie sind in einem Land, für das es eine Reisewarnung gibt. Wie sind Sie nach Afghanistan gekommen und wie geht es Ihnen dort?
EREN Im Moment fliegt nur noch die afghanische Luftlinie Kam Air über Dubai und Abu Dhabi nach Kabul. Ich bin mit dem Kriegsfotografen Johannes Müller und unserem Unterstützer Michael Söhner am 10. Dezember eingereist. Wir mussten uns bei einer afghanischen Vertretung in München persönlich vorstellen und unsere Kontaktpersonen benennen. In Afghanistan arbeiten wir mit einem deutschen Journalisten zusammen, der mit Ausländern gearbeitet hat, aber auch bei den Taliban Ansehen genießt. Die Taliban scheinen also jetzt nicht jeden zu jagen, der mit dem Westen zu tun hatte. Ich wohne in Kabul in einer Art Gästehaus für afghanische Geschäftsleute. Wir fahren unter bewaffnetem Begleitschutz in Regionen außerhalb von Kabul, um Lebensmittel und Medikamente zu verteilen. Der
Puls geht mir jedes Mal hoch, wenn ich an einem bewaffneten Checkpoint kontrolliert werde. Sonst geht es mir gut.
Sie verteilen Nahrung in einem Land, das laut Welternährungsprogramm kurz vor einer Hungersnot steht. Wie erleben Sie die Versorgungslage in Kabul und auf dem Land?
EREN Ich habe mich vor der Reise erkundigt, ob in Kabul überhaupt genug Lebensmittel vorhanden sind. Denn sonst würden wir hier den Händlern etwas abkaufen, was der lokalen Bevölkerung dann fehlt. Aber das ist nicht der Fall. Es fehlt den Menschen an Einkommen, um sich Essen zu kaufen. In Kabul lassen sich viele nicht mehr mit Geld bezahlen, sondern mit Lebensmitteln. Auf dem Land ist die Lage noch schlimmer. Die Kinder haben eingefallene Gesichter und entfärbte Haare. Das sind deutliche Zeichen von Unterernährung. Besonders schwer haben es die Kriegswitwen, ihre Familien
zu ernähren. Frauen bewegen sich kaum noch außerhalb des Hauses. Sie sind so gut wie unsichtbar. Auch die Taliban hungern. Sie bekommen keinen Lohn ausgezahlt.
Wie reagieren die Taliban auf Ihre Anwesenheit?
EREN Vor meiner Reise habe ich mir Gedanken gemacht, ob es vertretbar ist, mit den Taliban zu kooperieren, um den Menschen Hilfsgüter zu bringen. Denn es war klar, dass wir mit den Taliban reden müssen. Sie haben uns einen bewaffneten Begleiter zur Seite gestellt – und wir mussten ihnen unseren Plan erklären. In diesem Rahmen können wir aber machen, was wir wollen. Es fast schon absurd, wie freundlich die Taliban zu uns sind.
Wie meinen Sie das?
EREN Die Taliban haben uns sogar angeboten – für uns – Lebensmittel einzupacken. Sie haben es abgelehnt, für ihre eigene Familien Essen anzunehmen. Selbst wenn ich kritische Fragen zu den Frauenrechten stelle, bleiben die Antworten höflich. Ich habe den Eindruck, sie wollen praktische Hilfe aus dem Westen. Die Taliban erkennen, dass sie einen Krieg führen konnten, aber wenig Ahnung haben, wie ein Staat am Laufen gehalten wird. Über ihre Vorstellungen von einer Gesellschaft wollen sie aber nicht belehrt werden. Das sehen sie als Einmischung.
Ist es aus Ihrer Sicht wieder sicher für Helfer in Afghanistan und ist es moralisch vertretbar, mit den neuen Herrschern zu kooperieren?
EREN Alle meine Gesprächspartner sagen mir, dass das Land unter den Taliban sicherer geworden ist. Die Taliban sind eine hierarchische Truppe. Deshalb ist das Risiko, dass jemand ohne Befehl uns etwas tut, gleich null. Sie setzten sich mit aller Härte auch gegen kriminelle Banden und den IS durch. Ich sehe die Taliban nicht als homogene Einheit. Es gibt extreme Taliban und solche, mit denen man reden kann. Die Taliban wollen sich nichts diktieren lassen. Aber wer hier vor Ort hilft, hat auch einen Hebel für Verbesserungen, etwa der Frauenrechte. Wir stehen ohnehin nur noch vor der Wahl, eine humanitäre Katastrophe in Afghanistan ihren Lauf nehmen zu lassen oder eben mit den Taliban zu sprechen.