Unruhestifter oder starker Spielfuhrer?
ANALYSE Vor einem Monat feierte das Netz Lothar Wieler, als er fulminant vor der vierten Welle warnte. Jetzt fährt der Wissenschaftler Kanzler und Gesundheitsminister mit Reisewarnungen zu Weihnachten in die Parade. Warum macht der das?
Karl Lauterbach hat viele Talente. Der SPD-Mann ist seit zwei Wochen Gesundheitsminister, führender Corona-Experte – und ein Entertainer. Das ist eine in Stresssituationen in der Bundespolitik nicht zu unterschätzende Gabe, weil sie so selten ist. Am Mittwoch sitzt Lauterbach in der Bundespressekonferenz in der Mitte, rechts von ihm hat Lothar Wieler Platz genommen, links thront Kassenchef Andreas Gassen.
RKI-Präsident Wieler ist bemüht, wie immer freundlich-souverän in den Saal zu schauen. Dabei bewegt er sich seit der Ministerpräsidentenkonferenz auf dünnem Eis. Unabgestimmt preschte Wieler mit eigenen Vorschlägen vor, die strenger sind als die später gefassten Beschlüsse von Kanzler Olaf Scholz und den Länderchefs. Wieler empfiehlt maximale Kontaktbeschränkungen ab sofort, dazu gab er eine Reisewarnung für Weihnachten heraus. Ein überrumpelter Lauterbach musste sich in der MPK erklären, Scholz war verärgert. Doch wer einen Ministerauftritt nach Trapattoni-Art („Was erlaube Wieler?“) erwartet hatte, wurde enttäuscht. Auf die Frage, wie er zum Präsidenten des Robert-Koch-Instituts stehe, antwortete der Minister: „Wenn ich nicht zu Herrn Wieler stehen würde, dann säße er hier nicht.“Ein echter Lauterbach. Die Mini-Krise mit einem Satz abgeräumt.
Einen Rüffel erhielt Wieler trotzdem. Er sei von den RKI-Empfehlungen überrascht worden, so Lauterbach. „Da wird die Abstimmung noch optimiert werden.“Er betonte aber auch: „In meinem Haus gibt es keine Zensur, was wissenschaftliche Arbeiten angeht. Das wird es auch nicht geben.“Was aber ritt Wieler? Noch am Sonntag hatte der 60 Jahre alte Fachtierarzt für Mikrobiologie als Mitglied der neuen Expertengruppe die Empfehlung für Bund und Länder mitgetragen. 19:0 war das Votum. 48 Stunden später brüskierte er Kanzler und seinen Chef Lauterbach. Wieler verteidigte sich. Er sehe „keinerlei Widerspruch“zum Expertenrat. Der habe nur vage Ratschläge gegeben. „Das RKI ist eben eine Institution, die das in konkrete Empfehlungen ummünzt.“Die
Bund-Länder-Beschlüsse seien sehr gut. „Es sind stringente Maßnahmen, die werden das Infektionsgeschehen verlangsamen“, sagte er. Ob er die Maßnahmen für ausreichend hält, wollte Wieler aber nicht sagen: „Ob ich zufrieden oder unzufrieden bin, ist völlig irrelevant.“
Seit 2015 steht er an der Spitze der Bundesbehörde. Zu Beginn der Pandemie trat Wieler schüchtern auf. Dann wuchs er in die Rolle des kompetenten Seismografen der Krise hinein. Vor einem Monat lernte die Republik einen anderen Lothar Wieler kennen. In einer Onlinekonferenz mit Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) platzte Wieler der Kragen. Zugeschaltet aus seinem privaten Arbeitszimmer, klärte er die Nation auf, hinter damals 50.000 Neuinfektionen pro Tag steckten in Wahrheit mindestens doppelt oder dreimal so viele. Von den Infizierten dieses einen Tages würden rechnerisch etwa 400 Menschen sterben: „Wir können das nicht mehr ändern. Diese Menschen sind ja infiziert. Davon gehen dann eben 3000 ins Krankenhaus, davon gehen ein paar Hundert auf Intensiv, davon sterben eben so viele. Niemand von uns, der hier sitzt, kann diesen Typen noch helfen. Das ist ein Eimer Wasser, der ist ausgeschüttet, den kriegen Sie nicht mehr rein. Das Kind ist in den Brunnen gefallen.“Das Netz feierte Wieler dafür.
Schon im Juli warnte er vor der vierten Welle, rief mantrahaft zum
Boostern auf. Keiner hörte auf ihn, auch nicht Angela Merkel. Ein frustrierter Wieler verwies später auf Charité-Experte Christian Drosten, der mal gesagt habe, er sei kein Papagei. „Ich bin schon lange ein Papagei“, betonte Wieler. In Regierungskreisen heißt es, der RKI-Chef sei im Prinzip ein vollkommen unpolitischer Mensch. ieler habe wohl gar nicht auf dem Schirm gehabt, dass er Scholz und Lauterbach düpiere. Einer, der Wieler gut kennt, glaubt, dass der sich mit dem Papier absichern wolle, für den Fall, dass Omikron zu einem Tsunami wird. „Er will sich nichts vorwerfen lassen.“
Wieler habe sich aber auch verändert. Über Nacht wurde aus einem Behördenleiter ein Medienstar. Wer oder was ist der verheiratete Katholik, Vater zweier erwachsener Töchter und „Effzeh“-Fan nun wirklich: Unruhestifter mit schlechtem Timing oder starker Spielführer im Team Vorsicht, dem der weitere Pandemieverlauf bald recht geben wird?
„Ob ich zufrieden oder unzufrieden bin, ist völlig irrelevant“
RKI-Chef Lothar Wieler
zu den Bund-Länder-Beschlüssen