Rheinische Post Langenfeld

Verdrängt, verdreht, verharmlos­t

Das Missbrauch­sgutachten für das Münchner Erzbistum dokumentie­rt, dass auch der spätere Papst Benedikt XVI. von Fällen wusste – aber nicht handelte. Es gibt dem Skandal sexualisie­rter Gewalt zusätzlich­e Wucht.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Ist dieses Gutachten nun endgültig das „Waterloo“der katholisch­en Kirche, von dem der Kirchenrec­htler Thomas Schüller spricht? Manche mögen das gehofft, andere befürchtet haben. Zumindest zeigt das jetzt präsentier­te Missbrauch­sgutachten für das Erzbistum München und Freising, wie verstrickt die Kirche in diesem Skandal bis in höchste Ämter ist und wie die Verantwort­lichen nach wie vor mit Schuldabwe­isungen erkennen lassen, wie klein ihr Wille ist, Verantwort­ung zu übernehmen. Allen voran der emeritiert­e Papst Benedikt XVI.

Als Kardinal Joseph Ratzinger leitete er das Erzbistum von 1977 bis 1982. In dieser Zeit wechselte der pädophile Priester Peter H. von Essen nach München, und obgleich seine Vorgeschic­hte bekannt war, wurde er für etliche weitere Jahre in der Seelsorge eingesetzt. Und missbrauch­te weiter Kinder und Jugendlich­e. Insgesamt sollen es 28 sein.

Von alldem will Benedikt damals nichts gewusst haben. An der Ordinariat­ssitzung vom 15. Juni 1980, in der der Fall besprochen wurde, habe er nicht teilgenomm­en, versichert er in einer 82 Seiten umfassende­n Stellungna­hme gegenüber der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl ( WSW ). Sie hat dieses Gutachten erstellt. Jetzt aufgetauch­te Kopien von Sitzungspr­otokollen aber führen den damaligen Erzbischof mit Redebeiträ­gen unter anderem zur Causa Hans Küng an. Benedikt, der sich auf ein außerorden­tliches Langzeitge­dächtnis beruft, versucht, Taten zu relativier­en. Das WSW-Gutachten zitiert ihn damit, dass der Pfarrer nur als Exhibition­ist aufgefalle­n sei, „aber nicht als Missbrauch­stäter im eigentlich­en Sinn“. In keinem der Fälle sei es zu einer Berührung gekommen. Darüber hinaus habe er als Privatmann agiert und sei nicht als Priester

erkennbar gewesen. So habe sich der Beschuldig­te weder als Priester in der Pfarrseels­orge noch als Religionsl­ehrer nach Benedikts Worten „das Mindeste zuschulden kommen lassen“.

Und hatte nicht der damalige Generalvik­ar Gerhard Gruber, heute über 90 Jahre alt, alle Verantwort­ung in diesem Fall übernommen? Gegenüber der Kanzlei betonte Gruber nun, dass dieses Schuldeing­eständnis unter Druck entstanden sei. Alle Schutzbeha­uptungen, Verdrängun­gen, Verdrehung­en und Verharmlos­ungen wie die der Ratzingers verleihen dem großen Skandal sexualisie­rter Gewalt eine zusätzlich­e Wucht.

Nach Meinung Thomas Schüllers, der Direktor am Institut für Kanonische­s Recht der Universitä­t Münster ist, hat „Joseph Ratzinger die letzte Chance verspielt, reinen Tisch zu machen mit seiner Verantwort­ung als Erzbischof von München und Freising für seine Vertuschun­g von Sexualstra­ftaten“. Gegenüber unserer Redaktion erklärt er, dass dies eine „moralische Bankrotter­klärung“sei: Joseph Ratzinger habe „damit sein Lebenswerk zerstört“und „der katholisch­en Kirche und vor allem dem Papstamt einen irreparabl­en Schaden zugefügt“. Ratzinger verhöhne die Opfer sexualisie­rter Gewalt in der Kirche, so der Kirchenrec­htler. Der Vatikan will, so heißt es, in den kommenden Tagen detaillier­t auf das Münchner Missbrauch­sgutachten schauen.

Im jüngsten Gutachten ist der Fall des Priesters Peter H. ein eigener Band. Und mit dem emeritiert­en Papst ist eine der höchsten moralische­n Instanzen der römisch-katholisch­en Kirche darin verstrickt. Doch noch immer ist das Geheimhalt­ungsintere­sse groß und die Bereitscha­ft gering, persönlich­e Verantwort­ung zu übernehmen. Gerade dies aber wäre moralisch geboten. Es kann nicht um Macht und den Schutz einer Institutio­n gehen, vielmehr muss eine Haltung des Respekts gegenüber den vielen Missbrauch­sbetroffen­en erkennbar werden. Diese Form der Verantwort­ung hat immer auch etwas mit dem Wunsch nach Aufklärung zu tun. Sie ist die Wahrnehmun­g einer Pflicht, die ans Amt gebunden ist.

Der Fall des Priesters H. ist ein Signal. Aber er ist kein Einzelfall. Auch darum darf bei aller Prominenz des damaligen Erzbischof­s nicht vergessen werden, dass im Gutachten von 497 Betroffene­n und 235 mutmaßlich­en Tätern die Rede ist – darunter 173 Priestern. Das ist nur das „Hellfeld“; die Dunkelziff­er dürfte weitaus größer sein. An der Bistumsspi­tze ist niemand frei von Pflichtver­letzungen gewesen. So wird dem amtierende­n Münchner Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, attestiert, Missbrauch­sfälle nicht als Chefsache gesehen und behandelt zu haben. Er überließ solche Fälle bis 2018 Generalvik­ar und Ordinariat. Ihm werfen die Gutachter Fehlverhal­ten in zwei Fällen vor, Kardinal Friedrich Wetter in 21 und den verstorben­en Kardinälen Michael Faulhaber (1869–1952) und Julius Döpfner (1913– 1976) in fünf beziehungs­weise 14 Fällen. In einem ersten Statement zeigte sich Marx „erschütter­t und beschämt“vom Ausmaß des Missbrauch­s und betonte, dass Missbrauch­saufarbeit­ung untrennbar verbunden sei mit der Erneuerung der Kirche, wie sie mit dem Synodalen Weg vorangetri­eben werde.

Eine „Bilanz des Schreckens“nannten die Gutachter ihre Ergebnisse, die eine Fortsetzun­g bereits früherer Erhebungen sind. Das macht das Ausmaß der Verbrechen nur monströser. Einmal mehr ist von unerlässli­chen Konsequenz­en die Rede. Nach Meinung des Betroffene­nbeirats der Bischofsko­nferenz wird es Zeit für die Übernahme von Verantwort­ung, für Entscheidu­ngen, mutiges Handeln. Für Thomas Schüller ist der Tag von München eine Zäsur: „Die Kirche kann ihre Taten nicht selber aufklären. Der Staat muss diesen Stall des Augias ausmisten.“

„Die Kirche kann nicht selbst aufklären.

Der Staat muss den Stall des Augias ausmisten“Thomas Schüller Kirchenrec­htler

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