Es begann in Gangelt
Der Ort im Kreis Heinsberg war Deutschlands erster Corona-Hotspot. Das hat die Menschen dort geprägt.
GANGELT Als Severine Joordens aus dem künstlichen Koma aufwacht, weiß sie nicht, wo sie ist. Sie liegt auf der Intensivstation des Uniklinikums Aachen, um sie herum stehen Ärzte und Krankenschwestern. Sie ist an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen; Schläuche und Kanülen sind an ihrem Körper befestigt. Sprechen kann sie nicht, nur flüstern, weil sie ein kleines Loch im Hals hat, durch das sie beatmet worden ist. Es ist der 31. März 2020, 18 Tage zuvor, an einem Freitag dem 13., ist die Funktion ihrer Lungen infolge einer Covid-19-Erkrankung ausgefallen.
Die 46-Jährige kommt aus Gangelt, der 13.000-Einwohner-Gemeinde im westlichen Zipfel des Kreises Heinsberg, aus der der erste bestätigte Coronavirus-Patient in NRW – ein damals 47-jähriger Familienvater – stammt. Er war am 25. Februar 2020 in die Uniklinik Düsseldorf gebracht worden. Damals hatte der Kreis Heinsberg folgende Mitteilung herausgegeben: Der Mann habe die Kappensitzung in GangeltLangbroich besucht, hieß es darin. Und weiter: Personen, die ebenfalls dort waren, werden gebeten, sich bei grippeähnlichen Beschwerden bei ihrem Hausarzt oder beim Gesundheitsamt zu melden. Es war der Beginn der Corona-Pandemie in NRW. Gangelt war der erste Hotspot in Deutschland.
Severine Joordens, Mutter zweier Kinder, hat sich nicht auf der Kappensitzung infiziert, sondern am 7. März in den Niederlanden, bei Proben für „Sing in 2020“in Heel, einem Musikfestival für Chöre. Die damals 44-Jährige ist gelernte Musiklehrerin, hat im Chor von André Rieu mitgesungen. Ihre Stimme ist ihr Kapital, sie ist international gefragt. „Drei Tage später ging es mir plötzlich nicht mehr gut“, erinnert sie sich. Ihre Bronchien schmerzten, sie fühlte sich schlapp, konnte kaum noch aufstehen. Ihr Sohn wählte den Notruf, sie selbst war schon zu schwach dafür. Sechs Tage nach ihrer Ansteckung hörten ihre Lungen auf zu arbeiten. Sie wurde ins künstliche Koma versetzt.
Wie das Virus nach Gangelt kam, weiß bis heute niemand. Weitergegeben wurde es aber am 15. Februar auf der Kappensitzung im Bürgertreff. Vermutlich hat sich das Virus durch Aerosole im Saal verbreitet. Man schätzt, dass sich die Hälfte der 300 Anwesenden infiziert hat. In den folgenden Tagen besuchten viele von ihnen weitere Sitzungen in Sälen oder feierten Straßenkarneval.
Auch Daniel Wenzel, Pfarrer der katholischen Gemeinde in Gangelt, hat damals gefeiert; jedoch nicht in Gangelt, sondern in Dülken. „Ich habe da richtig schön Party gemacht“, sagt er. Als er wieder zu Hause war, stand sein Handy nicht mehr still. Die Nachricht, dass Patient Eins aus der Gemeinde kam, verbreitete sich ebenso schnell wie das Virus. Die Schulgottesdienste am nächsten Tag wurden abgesagt, der normale Gottesdienst an Aschermittwoch fand aber noch statt – jedoch ohne Aschekreuz. „Bei den Besuchern war eine große Verunsicherung zu spüren: Was passiert hier gerade?“, sagt Wenzel.
Diese Frage stellte sich auch Severine Joordens, nachdem sie aus dem Koma erwacht war. Sie kämpfte sich ins Leben zurück, Schritt für Schritt. Mitte April konnte sie wieder nach Hause, dann begann die Reha. Ihr unerschütterlicher Lebenswille und die Unterstützung ihrer Familie halfen ihr, wieder zurück ins Leben zu finden; es dauerte lange, aber sie schaffte es. „Ich habe jetzt sogar wieder eine Anstellung als Musiklehrerin an einer Schule“, sagt sie.
Die Bürger in Gangelt blieben trotz der Pandemie ruhig, niemand geriet in Panik; nur in den ersten Tagen gab es Hamsterkäufe, es waren bundesweit die ersten. Am Aschermittwoch waren schon mittags Nudeln und Toilettenpapier in den Supermärkten ausverkauft. Dann legte sich die Aufregung – bis heute. Die Menschen dort stehen zusammen und helfen sich gegenseitig. Einige Gangelter, die an Covid-19 erkrankten, sind wie Joordens ins künstliche Koma versetzt worden. Manche leiden noch heute an Spätfolgen
der Krankheit. Mehrere Dutzend Menschen aus der Gemeinde sind bislang an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben; viele von ihnen wurden auf dem Friedhof von St. Nikolaus bestattet. Nur die engsten Angehörigen durften zu den Beerdigungen kommen. Besonders in den ersten Wochen der Pandemie war das für viele schmerzlich. Pfarrer Wenzel versuchte, den Abschied von den Liebsten so angenehm wie möglich zu gestalten. Es gab Musik bei den Beerdigungen, eine Gemeindereferentin spielte Querflöte. „Wir haben das Beste daraus gemacht. So tragisch und schmerzlich Beerdigungen immer sind; für die Umstände waren es gute Feiern, fand ich. Beklemmend, aber doch tiefsinnig und ernsthaft“, sagt Wenzel.
Vom ersten Tag an wusste jeder in Gangelt, wer Patient Eins ist. Auch danach war die Gemeinde immer gut informiert. „Wir hier in Gangelt kennen die Leute, die sich mit Corona infiziert haben“, sagt Pfarrer Wenzel. „Ich kenne Patient Eins, dem es wieder besser geht. Ich kannte Menschen, die an Corona gestorben sind, die sich nach einer schweren Infektion wieder aufgerappelt haben und welche, die immer noch an den Folgen leiden“, sagt er.
In Gangelt hat man besonders viel Leid erlebt; ganz Deutschland hat wochenlang auf die kleine Gemeinde geblickt. Wer aus dem Kreis Heinsberg kommt, wird nicht selten angefeindet. Viele Menschen gaben den Bürgern aus dem Kreis die Schuld an der Verbreitung des Virus – unberechtigterweise. „Das haben wir nie richtig verstanden“, sagt eine junge Frau, deren Auto in Köln zerkratzt worden ist. „Ich vermute jedenfalls, dass der Grund dafür war, dass ich aus dem Kreis Heinsberg komme. Mein Fahrzeug hat das Kennzeichen“, sagt sie.
Severine Joordens genießt nach ihrer Genesung die langen Spaziergänge in den Feldern hinter ihrem Haus, wenn sie die frische Luft ganz tief einatmen kann. Jene drei Wochen, in denen sie an Schläuchen angeschlossen im Koma gelegen und um ihr Leben gekämpft hat, scheinen für sie in diesen Momenten kurzzeitig verflogen zu sein. „Ich habe Corona überlebt. Jetzt kann ich wieder nach vorne blicken“, sagt die zweifache Mutter. „Und nur das zählt.“