Angriffe gegen den Angreifer
Die Zwischenfälle auf russischem Staatsgebiet mehren sich. Was das für den Verlauf des Kriegs bedeutet.
MOSKAU/KIEW (dpa) Die Empörung ist groß in Russland, weil im Angriffskrieg gegen die Ukraine von dort angeblich immer häufiger auch das eigene Staatsgebiet beschossen wird. Die Schäden und die Zahl der Verletzten auf russischem Gebiet sind zwar minimal im Vergleich zur Zerstörung ganzer Städte und Tausenden Toten in der Ukraine – aber Moskaus Militärführung nimmt die Zwischenfälle inzwischen zum Anlass, Kiew mit noch härteren Schlägen gegen Kommandozentralen in der Hauptstadt zu drohen.
Die Ukraine weist die Vorwürfe, Ziele wie Munitionsdepots oder Kraftstofflager im großen Nachbarland insVisier genommen zu haben, in der Regel zurück. Manchmal erklärt die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj aber auch selbstbewusst, dass Russland es eben nicht anders verdient habe. In den Grenzgebieten merkten die Russen nun selbst, was es bedeute, „entmilitarisiert“zu werden, meinte beispielsweise Präsidentenberater Mychajlo Podoljak. Russlands StaatschefWladimir Putin hatte den Einmarsch auch damit begründet, das vom Westen aufgerüstete Land entwaffnen zu wollen.
Podoljak sagte an die Adresse der Russen:„Wenn ihr euch entscheidet, massiv ein anderes Land zu attackieren, dort massenhaft alle nacheinander tötet, friedliche Menschen mit Panzern zerquetscht und für diese Morde eure Lager in euren Gebieten benutzt, dann werdet ihr früher oder später eure Schulden zurückzahlen müssen.“Das sei ein „absolut natürlicher Prozess“, so der Selenskyj-Berater. Zugleich betonte er, es könne unterschiedliche Gründe für die Zerstörung der russischen Infrastruktur geben.
Am Wochenende beklagte der Gouverneur der westrussischen Region Kursk, Roman Starowojt, Granatbeschuss von ukrainischer Seite. In der Region gilt Warnstufe gelb für Terrorgefahr. Auch die russischen Gebiete Belgorod, Brjansk undWoronesch melden immer wieder Zwischenfälle. Für besonderes Aufsehen sorgten Anfang April Bilder von einem großen Feuer in einem Öllager in der Nähe der Stadt Belgorod. Zwei ukrainische Kampfhubschrauber, so die Russen, hätten das Depot in Brand gesetzt. Im Internet kursierten danachVideos von zwei Helikoptern, die im Tiefflug unterwegs waren. Die nicht überprüfbaren Aufnahmen ließen auch viele Russen fragen, wie ein solches Eindringen in den Luftraum der Atommacht überhaupt möglich sei.
Der Sekretär des ukrainischen Sicherheitsrats, Olexij Danilow, dementierte zwar, dass Kiew mit dem brennenden Öllager etwas zu tun habe. Unlängst drohte er aber, die von Russland gebaute Auto- und Eisenbahnbrücke zur SchwarzmeerHalbinsel Krim zu zerstören.
Am Sonntag wurde gemeldet, dass – ebenfalls im Gebiet Belgorod – eine militärische Einrichtung in Brand geraten sein soll. Das Feuer sei auf dem Gebiet eines Objekts des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation ausgebrochen, schrieb Gouverneur Wjatscheslaw Gladkow im Nachrichtendienst Telegram. Die Brandursache war zunächst unklar, ebenso wie der Grund für den Einsturz einer Eisenbahnbrücke im grenznahen Gebiet Kursk.
Der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, lässt keine Gelegenheit aus, Kiew auf die Reichweiten russischer Raketen hinzuweisen. Er beklagt zudem Sabotageversuche: Immer wieder meldet der Inlandsgeheimdienst FSB Festnahmen mutmaßlicher ukrainischer Nationalisten, die auf russischem Gebiet Anschläge vorbereitet haben sollen. Dazu werden Videos von Verdächtigen mit selbst gebauten angeblichen Sprengsätzen gezeigt. Die Ukraine weist das als Unsinn zurück.
Doch der mutmaßliche Beschuss aus dem Nachbarland und die Mitteilungen des FSB lösen bei vielen Russen Ängste aus, dass der Krieg sich ausweiten könnte. Russland selbst schürt solche Ängste. Die Zwischenfälle auf russischem Staatsgebiet – aber auch eine zuweilen von Moskaus Propagandisten diskutierte mögliche Niederlage in der Ukraine – nähren Befürchtungen, dass Putin seinen Einsatz noch einmal erhöhen könnte. Mit Spannung wird seine Rede zur Militärparade am 9. Mai in Moskau erwartet, mit der Russland jedes Jahr an den Sieg über NS-Deutschland 1945 erinnert. Auch im Westen wird spekuliert, dass der Kremlchef mit derWaffenschau zum Großangriff blasen könnte.