„Abi für alle ist nicht unser Ziel“
Der Vizeministerpräsident und FDP-Spitzenkandidat bei der Landtagswahl in NRW spricht über Koalitionsbedingungen, neue Migrationspolitik und Schlammschlachten im Wahlkampf.
Wie läuft es mit der Aufnahme von Geflüchteten in NRW-Städten? STAMP Wir haben in NordrheinWestfalen in wenigen Wochen 130.000 Menschen aufgenommen, das ist mehr als in der Spitze von 2015. Es ist in erster Linie ein Riesenerfolg der Ehrenamtlichen und der Kommunen, dass dies gelungen ist. Die Zivilgesellschaft kann darauf stolz sein. Aber auch unsere Steuerung seitens des Landes hat funktioniert. Bei so einer Herausforderung wird es aber auch immer wieder Situationen geben, in denen es auch mal ruckelt, aber grundsätzlich bekommen wir es gut hin. Wir wissen alle nicht, wie der Krieg weitergeht. Wenn Putin seinen Terror gegen die Zivilbevölkerung auch im Westen der Ukraine fortsetzt, kann es sein, dass es neue größere Fluchtbewegungen gibt. Aber auch darauf wären wir vorbereitet.
Welche Entwicklung erwarten Sie für die Zukunft?
STAMP Die meisten der Geflüchteten wollen so schnell wie möglich in ihre Heimat zurück, und natürlich hoffen auch wir, dass dies bald für sie möglich ist. Wir erleben da anrührende Geschichten. Familien, die aus einer Behelfsunterbringung in einem Zelt nicht in eineWohnung umziehen wollen, weil sie das als Verrat an ihrem Land empfinden. Sie wollen auf dem Sprung bleiben. Aber trotzdem ist klar, dass es viele geben wird, die länger hierbleiben, und die wollen wir schnell integrieren. Sie sind bei uns willkommen. Wir wollen ihr Leid nicht ausnutzen – aber diejenigen, die bleiben wollen, sind eine Verstärkung für unsere Gesellschaft. Denn wir haben eine demografische Lücke und einen massiven Fachkräftemangel.
Die FDP will gesteuerte Migration: Richten Sie Ihre Ziele jetzt neu aus? STAMP Nein, natürlich hoffe ich, dass das Gros der Menschen wieder zurückkehren kann, so wie sie es selbst wollen. Wir brauchen weiterhin die gesteuerte Migration. Und wir brauchen mehr Tempo dabei. Ich will, dass wir zwei Dinge vorziehen, die auf Bundesebene vereinbart sind. Erstens: die Neuregelung der Bluecard. Es muss die Möglichkeit geben, dass man mit einem einfachen Arbeitsvertrag mit einem deutschen Unternehmen regulär in den deutschen Arbeitsmarkt einreisen kann. Das ist eine Notwendigkeit, fast alle Unternehmen leiden unter Fachkräftemangel. Zweitens: Wir wollen sofort hier in NRW und in Deutschland alle bestehenden Arbeitsverbote aufheben, die sich aus alten Asylverfahren ergeben haben. Wir brauchen jetzt jede helfende Hand.
Landeswirtschaftsminister Andreas Pinkwart ist für Kernenergie als Übergangslösung in der Energiekrise. Sie auch?
STAMP Ja. Ich glaube, dass wir die verbliebenen drei Atomkraftwerke als Brücke nutzen sollten. Es geht nicht um einen Neueinstieg in die Atomenergie, dagegen gibt es einen gesellschaftlichen Konsens. Zeitgleich müssen wir die erneuerbaren Energien schnellstens ausbauen. Dafür haben wir einen Vorschlag: Von den 60 Milliarden Euro Sondervermögen des Bundes für die Transformation sollten wir als besonders energieintensiver Standort 15 bis 20 Milliarden nach NRW ziehen können. Herr Wüst sollte sich dafür einsetzen, dass die CDU ihre Klage gegen das Sondervermögen vor dem Verfassungsgericht beendet. Hier handelt die CDU nämlich gegen die Interessen unseres Landes. Wir Freie Demokraten halten es zudem für sinnvoll, zusätzlich zu den Bundesmitteln seitens des Landes in den nächsten fünf Jahren bis zu zehn Milliarden zur Kofinanzierung draufzulegen. Diese etwa 25 Milliarden Euro würden nach vorsichtigen Prognosen zusätzliche 50 Milliarden Euro privater Investitionen ermöglichen. Wir hätten 75 Milliarden für den Transformationsprozess in NRW.
Warum wollen Sie Kitas nicht gebührenfrei machen?
STAMP Das wollen wir – aber schrittweise. Denn wir müssen realistisch sein. Das ist eine Frage der Haushaltslage. Wir haben auch noch gewaltige Kosten vor uns, um den Rechtsanspruch auf einen Offenen Ganztagsplatz an den Schulen zu erfüllen. Es bringt nichts, vor der Wahl etwas zu versprechen, was man nachher nicht halten kann. Mit uns wird es aber mindestens ein weiteres beitragsfreies Jahr geben. Dann wären die Jahre für die über Dreijährigen kostenfrei.
Sie wollen 1000 besonders ausgestattete Talentschulen. Warum genau 1000 und nicht eine Schulfinanzierung, die den Bedarf aller Schulen immer berücksichtigt? STAMP Mit dem Sozialindex berücksichtigen wir ja überall die Bedarfe. Das ist ein wichtiger Schritt für mehr Bildungsgerechtigkeit, den wir umgesetzt haben und wo uns selbst die Opposition zustimmt. Zusätzlich haben wir mit den Talentschulen Leuchttürme geschaffen, die in den Stadtteilen mit besonderen Herausforderungen auch über das Schultor hinaus strahlen. Die 60 Talentschulen, die wir in NRW haben, sind eine Erfolgsstory mit einem klaren Prinzip: Optimale Ausstattung dahin, wo die größten Herausforderungen sind. Und 1000 Schulen in ganz NRW ist unsere Zielmarke, weil das über die nächsten fünf Jahre realistisch machbar ist. Übrigens ist unser Ziel nicht „Abi für alle“. Wir wollen akademische und berufliche Bildung in der Landesverfassung als gleichwertig festschreiben. Wenn meine Töchter sich entscheiden, eine Lehre zu machen, und Tischlermeisterinnen werden, dann ist das kein Bildungsabstieg und sollte auch nicht so gewertet werden. Und weil Lebenswege verschieden sind, brauchen wir auch eine vielfältige Schullandschaft.
Die FDP steht für Corona-Lockerungen. Können Sie verstehen, dass Menschen, die gefährdet sind oder in belasteten Bereichen arbeiten, das unsozial finden?
STAMP Es ist eine große zivilisatorische Leistung, was es in dieser Gesellschaft an Rücksichtnahme gegeben hat. Aber das Gesundheitssystem wird durch Omikron nicht überlastet. Perspektivisch müssen wir Risikogruppen schützen. Sobald ein angepasster Impfstoff da ist, sollten wir über eine gezielte Impfkampagne für die über 60-Jährigen reden, aus meiner Sicht wäre da auch eine Beratungspflicht mit Impfangebot sinnvoll. Und Schulministerin Yvonne Gebauer und ich bereiten bereits jetzt für unterschiedliche Pandemie-Szenarien Testregimes vor, damit Kitas und Schulen im Herbst abgesichert sind.
Welches Wahlergebnis erwarten Sie für die FDP?
STAMP Unser Ziel ist ein zweistelliges Ergebnis. Wir wollen so stark werden, dass keine Regierung ohne uns gebildet werden kann.Wir möchten die NRW-Koalition gern fortsetzen. Aber grundsätzlich sind alle demokratischen Parteien miteinander gesprächsfähig. Keine Konstellation ist ausgeschlossen, und uns geht es nicht darum, wer vorne als Ministerpräsident winkt, sondern um Inhalte. Wir wollen ein bürokratiearmes Modell für die Grundsteuer, das Entlastung schafft, im Koalitionsvertrag haben und unmittelbar umsetzen. Und wir wollen ein Entlastungsprogramm für junge Familien bei der Grunderwerbsteuer. Diese Dinge sind für uns elementar für die Frage, mit wem wir weiter regieren. Außerdem: Wenn der Schulkonsens nächstes Jahr ausläuft, droht wieder die rot-grüne Einheitsschule ohne Noten. Dann stehen auch wieder die hervorragenden Förderschulen in NRW vor der Schließung. Ich unterschreibe nur einen Koalitionsvertrag, in dem es ein klares Bekenntnis zur Schulvielfalt gibt. SPD und Grüne müssen ihre Pläne offenlegen. Auch die CDU darf nicht zum Steigbügelhalter für linke Bildungsexperimente werden.
Was haben Sie in der vergangenen Legislaturperiode falsch gemacht? STAMP Dass wir am Anfang der Pandemie Spielplätze gesperrt und Kitas geschlossen haben, das war aus meiner Sicht nicht richtig. Daraus hätten wir uns schneller befreien müssen. Wollten wir auch, das war aber mit der CDU sehr schwierig.
Wie erleben Sie gerade den Wahlkampf?
STAMP Ich finde es beschämend, was hier zwischen CDU und SPD abläuft. Von beiden Seiten: Diese inszenierte, durchchoreografierte Empörung – das ist unter aller Kanone. Wir haben 7,7 Prozent Preissteigerung, wir haben 130.000 Leute aus der Ukraine untergebracht und wissen nicht, was Putin noch vorhat. Und bei denen geht es um Mallorca-Gate und Instagram und darum, wer irgendwann mal mit wem in Russland Kontakt gehabt hat. Das müssen Parteihistoriker aufarbeiten – wir haben wirklich wichtigere Herausforderungen.