Eine Saison fürs Geschichtsbuch
Selbst verletzt spielt Eishockeystar Leon Draisaitl überragende Play-offs in der NHL. Der Kölner gehört seit Jahren zu den besten Spielern der Welt. Aber in Deutschland wird er weit weniger gefeiert als im Ausland – auch nach diesem Rekordjahr.
DÜSSELDORF Es ist bei EishockeyTeams guter Brauch, nach dem Ausscheiden zu verkünden, mit welchen Beschwerden sich das eigene Personal durch die Play-offs quälen musste. Auch Ken Holland hat das dieser Tage getan. Und weil da einiges zusammenkam, hatte sich der Manager der Edmonton Oilers für seine letzte Pressekonferenz dieser NHL-Saison eine Liste gemacht: verstauchter Knöchel, gerissener Hufbeuger, Gehirnerschütterung, mehrere lädierte Schultern. Und das sei nicht alles. „Es gibt fünf, sechs, sieben andere Jungs, die angeschlagen gespielt haben“, sagte Holland, „aber zu dieser Jahreszeit ist es das, was NHL-Spieler tun: Sie spielen angeschlagen.“
Die einen halten das für heroisch, die anderen für unverantwortlich. Das ist auch jetzt so, besonders wenn es um Leon Draisaitl geht, den deutschen Stürmerstar der Oilers. Ihm gehört der erwähnte Knöchel, weswegen Draisaitl über Wochen nur„unter großen Schmerzen“spielen konnte, wie Holland sagte, aber damit nichts Neues erzählte. Alle sahen, wie unrund der 26-jährige Kölner übers Eis lief, wie er sich nach seinen Wechseln zur Bank schleppte, wo er dann mit schmerzverzerrtem Gesicht saß oder gleich für Reparaturen in der Kabine verschwand. Trainieren konnte er zuletzt gar nicht mehr.
Dem Gegner war es egal. Draisaitl wurde gecheckt, gehakt, ausgehebelt, geschlagen – teilweise direkt auf seinen lädierten Knöchel. Und dennoch zeigte er eine Leistung „fürs Geschichtsbuch“, wie es nun heißt.
Sieben Tore und 25 Vorlagen in 16 Spielen, allein im letzten Halbfinalspiel am Montag, als die Oilers 5:6 gegen Colorado verloren und ausschieden, bereitete Draisaitl vier Tore vor. Im Viertelfinale gegen Cal
gary war er in nur fünf Spielen gar an 17 Toren beteiligt gewesen – Rekord in der stärksten Eishockeyliga der Welt. Und nicht der einzige, an dem Draisaitl und sein Sturmpartner Connor McDavid rüttelten.
„Es war unglaublich, auf welchem Niveau er spielte, während er da durch musste“, sagte Holland und vertrat keine Einzelmeinung. Die Fachwelt ist sich einig: Selbst für einen fitten Spieler wäre das einer der besten Play-off-Auftritte der NHLGeschichte gewesen. Für einen angeschlagenen gibt es nur noch Superlative. Vor allem in Kanada und Teilen der USA, wo Draisaitl längst nicht mehr unerkannt über die Stra
ße gehen kann. Da kaufen tausende Fans sein Trikot, die Medien berichtet täglich über ihn.
Und auch die Kollegen haben größte Hochachtung vor dem Deutschen, in einer Umfrage wählten ihn die NHL-Profis jüngst zum besten Passspieler der Liga. Umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass Draisaitl allein seit 2018 auch 191 Mal selbst traf und damit zweitbester Torjäger der NHL ist.
Auch in europäischen Eishockeynationen hat er längst den Status als Superstar. Da kam es weniger überraschend, dass das große Sportgeschäft neben dem Eisstadion im finnischen Helsinki mit einem Drai
saitl-Poster im Schaufenster wirbt. Doch als das deutsche Nationalteam kürzlich in derselben Halle bei der WM spielte, stand Draisaitl nicht auf dem Eis.
Ebenso wenig im Vorjahr, als die DEB-Auswahl ins WM-Halbfinale stürmte. Oder beim historischen Olympiasilber 2018. Da war er jeweils im Klub gefragt. Ein Großteil des deutschen Sportpublikums kennt Draisaitl nur aus Erzählungen.
Das liegt einerseits daran, dass die NHL eben wenig Rücksicht nimmt auf den internationalen Spielverkehr. Andererseits daran, dass Draisaitl all die Tore schießt und vorbereitet, wenn in der Heimat geschlafen wird. Nun galt das auch für Basketballer Dirk Nowitzki, dem anderen deutschen Sportstar in Übersee. Aber man darf nicht vergessen, dass Nowitzki in Deutschland erst richtig geschätzt wurde, nachdem er individuelle Auszeichnungen gewann, ins NBA-Finale kam und die Meisterschaft holte. Und es brauchteWerbung, die meisten Deutschen dürften Nowitzki häufiger in launigen TV-Spots für eine Bank als auf dem Basketballplatz gesehen haben.
Zwar hat auch Drasaitl schon Trophäen gewonnen, aber keine mit dem Team. Weiter als jetzt ins Halb
finale kamen die Oilers mit ihm und McDavid nie. Ein „nächster Schritt“sei das gewesen, sagte der Kölner. Aber es ist fraglich, ob ein Team mit zwei Weltklassestürmern, aber anfälliger Defensive auf absehbare Zeit weitere Schritte gehen kann.
Den Titel wird es aber wohl brauchen, damit auch der hiesigen Öffentlichkeit bewusst wird, dass es da drüben einen gibt, der Eishockey spielen kann wie kein Deutscher zuvor. Der seit Jahren zu den Besten derWelt gehört und auch so gefeiert wird. Der in 595 Spielen 675 Scorerpunkte gesammelt und bereits mit 26 Jahren alle deutschen NHL-Rekorde gebrochen hat. Ganz unbemerkt passierte das natürlich nicht, 2020 wurde er„Deutschlands Sportler des Jahres“, aber mehr als ein paar Tage Aufmerksamkeit brachte ihm das nicht.
Bis heute wird er daheim in Köln selten erkannt. Damit sich das ändert, muss er wahrscheinlich mit dem Stanley Cup vor dem Dom posieren. Nächstes Jahr wird er es wieder versuchen. Und wohl von Saisonbeginn an, denn eine gute Nachricht hatte Oilers-Manager Holland dann doch: Draisaitl muss nicht operiert werden.