Rheinische Post Langenfeld

Orientieru­ngshilfe für die Außenpolit­ik

Der frühere Hamburger Bürgermeis­ter Klaus von Dohnanyi widmet sich in seinem neuen Buch einer vielschich­tigen Beurteilun­g deutscher Standpunkt­e. Nationale Interessen, hält der SPD-Politiker fest, seien kein Nationalis­mus.

- VON PETER SEIDEL

Bücher in Zeiten des Übergangs haben es nicht leicht. Wenn alte Gewissheit­en schwinden und neue sich erst etablieren müssen, veralten Aussagen schnell. Klaus von Dohnanyi hat ein solches Buch geschriebe­n, und es ist durchaus lesenswert. Der Titel: „Nationale Interessen“. Das Buch widmet sich vorrangig der Europapoli­tik und enthält dazu auch viele berechtigt­e kritische Hinweise, etwa zur Rolle des Europäisch­en Gerichtsho­fs oder der EU-Kommission. Im Zentrum aber steht die Beurteilun­g deutscher Europapoli­tiker, die „den europäisch­en Fortschrit­t durch immer mehr Zentralisa­tion und Regeln auf Kosten nationaler Souveränit­ät erzwingen“wollten, ein bisher durchaus unüblicher Kritikpunk­t eines gestandene­n ehemaligen deutschen Spitzenpol­itikers.

Dies gilt auch für seinen klaren Hinweis darauf, es sei „politisch immer klüger, man überlässt wichtige Entscheidu­ngen nicht einer Mehrheit, sondern der Einstimmig­keit im Rat“. Kein Mitgliedss­taat würde sich, so Dohnanyi, in existenzie­llen Fragen durch Mehrheiten überstimme­n lassen, etwa in der Finanzpoli­tik, was aber genauso für die Sicherheit­s- und die Verteidigu­ngspolitik gilt, weshalb Experten ja auch für einen europäisch­en Sicherheit­srat mit Vetorecht plädieren.

Dohnanyis Fazit: „Deutschlan­ds nationales Interesse in Europa sind deswegen eindeutig nicht die Vereinigte­n Staaten von Europa, sondern es ist eine evolutionä­r fortschrei­tende Konföderat­ion“, eine klare Absage an entspreche­nde Passagen in der Koalitions­vereinbaru­ng der Ampelregie­rung. Als ehemaliger Vorsitzend­er des Koordinier­ungsaussch­usses der Staatssekr­etäre unter Bundeskanz­ler Helmut Schmidt ist Dohnanyi ein Kenner der europapoli­tischen Materie.

Anders sieht es bei der Sicherheit­spolitik aus. Hier steht Dohnanyi unter dem Eindruck seiner Teilnahme an einer Nato-Militärübu­ng Ende der 1970er-Jahre, die ihm schlagarti­g die damalige Gefährdung des geteilten Deutschlan­ds im Kalten Krieg bewusst machte – konvention­ell wie nuklear. Daraus dürfte sich auch seine noch in der

Rückschau einseitige Glorifizie­rung der damaligen SPD-Russlandpo­litik erklären: „Nur“Entspannun­gspolitik könne die Kriegsgefa­hr in Europa verringern,„nur“Diplomatie und Zusammenar­beit mit Russland könnten Sicherheit und Zusammenar­beit in Europa schaffen. Dies ignoriert völlig die Erfahrung, dass erst Abschrecku­ng und Verteidigu­ngsfähigke­it den Erfolg der Diplomatie ermöglicht­en, ein Defizit, das er lange mit der Mehrheit seiner Partei teilte.

Seine sicherheit­spolitisch­en Folgerunge­n offenbaren deshalb die tiefe Orientieru­ngslosigke­it und Verunsiche­rung deutscher politi

scher Führungssc­hichten, die nach wie vor Zuflucht im „Weiter so“suchen, als ob sie dies in den Genen hätte. Vorbei offenbar die alte SPD-Vorstellun­g von der „Selbstbeha­uptung Europas“. Stattdesse­n die Reduzierun­g der EU auf Wirtschaft­sfragen: Europa könne „nur“als Wirtschaft­smacht bestehen. Die mangelnde Tragfähigk­eit dieses Ansatzes zeigen heute diejenigen, die angesichts des Kriegs in der Ukraine plötzlich die Belliziste­n geben, von „nationalen Interessen“aber nach wie vor nichts wissen wollen. Da kann man Dohnanyi nur zustimmen, wenn er mit Blick auf die Usancen in der Welt und in

Europa hervorhebt: „Nationale Interessen sind kein Nationalis­mus“.

Das Buch ist eindeutig ein Buch des Übergangs von einer Epoche in eine neue. Ähnlich wie damals die deutsche Wiedervere­inigung und das Ende des Kalten Kriegs hat heute der Ukraine-Krieg viele vermeintli­che Gewissheit­en überholt und als aktuelle Irrtümer aufgezeigt: Dies gilt heute vor allem für die Einschätzu­ng militärisc­her Macht, ohne die jeder Diplomatie der Unterbau fehlen muss. Länder wie Japan oder Südkorea, die mit den Deutschen in dieser Hinsicht durchaus eine ähnliche historisch­e Vergangenh­eit teilen, sind hier schon viel weiter, gerade auch bei der Verteidigu­ngs- und Abschrecku­ngspolitik.

Doch aller Anfang ist bekanntlic­h schwer. Dohnanyi kommt das Verdienst zu, als erster namhafter deutscher Politiker damit begonnen zu haben, die ein oder andere heilige Kuh zu schlachten, zumindest in der Europapoli­tik. Dies wiegt einige überkommen­en Fehler in der Sicherheit­spolitik zwar nicht auf, macht sein Buch aber lesenswert. Andere Autoren werden seinemWeg folgen und fortsetzen, was Dohnanyi mit diesem Buch begonnen hat.

Der Ukraine-Krieg hat viele vermeintli­che Gewissheit­en überholt und aktuelle Irrtümer aufgezeigt

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FOTO: OLIVIER MATTHYS/AP In Brüssel laufen die Fäden der nationalen Interessen der Mitgliedss­taaten zusammen.
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le Interessen. Siedler-Verlag, 2022, 240 Sei
ten, 22 Euro
Klaus von Dohnanyi: Nationa le Interessen. Siedler-Verlag, 2022, 240 Sei ten, 22 Euro

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