Heikle Reise
Die Lieferung weiterer Waffen und eine Beitrittsperspektive für die EU – die ukrainischen Erwartungen an Olaf Scholz bei seinem Besuch in Kiew sind hoch.
BERLIN Kaum eine politische Reise wurde je stärker beachtet: Zwar blieben die Details zunächst im Dunkeln, aber laut Berliner Regierungskreisen vom Mittwochabend ist Kanzler Olaf Scholz auf dem Weg nach Kiew. Dort soll er am Donnerstag gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi mit der ukrainischen Staatsführung zusammentreffen. Über den Besuch des Kanzlers in der ukrainischen Hauptstadt war lange diskutiert worden. Und weil der deutsche SPD-Kanzler betont hatte, nicht nur für einen Fototermin nach Kiew reisen zu wollen, sind die Erwartungen an ihn hoch. „Ich werde nicht mich einreihen in eine Gruppe von Leuten, die für ein kurzes Rein und Raus mit einem Fototermin was machen. Sondern wenn, dann geht es immer um ganz konkrete Dinge.“Um welche also?
Diplomatie Weil das Interesse am Krieg im Westen nachzulassen droht, geraten verstärkt diplomatische Auswege in den Fokus. Nach Einschätzung des französischen Präsidenten vom Mittwoch wird die Ukraine irgendwann mit Russland Gespräche führen müssen, um den Krieg zu beenden. Russland dürfe in Hinblick auf eine Verhandlungslösung nach Ende der Kämpfe nicht gedemütigt werden. Darauf hatte die Ukraine mit scharfer Kritik reagiert. Kiews Präsidentenberater Oleksij Arestowytsch wies am Mittwoch einen möglichen Friedensplan nach dem Vorbild der Minsker Vereinbarung zurück. „Ich fürchte, sie werden versuchen, ein Minsk III zu erreichen. Sie werden sagen, dass wir den Krieg beenden müssen, der Ernährungsprobleme und wirtschaftliche Probleme verursacht, dass Russen und Ukrainer sterben, dass wir das Gesicht von Herrn Putin wahren müssen, dass die Russen Fehler gemacht haben, dass wir ihnen verzeihen müssen und ihnen eine Chance geben müssen, in die Weltgesellschaft zurückzukehren“, sagte Arestowytsch. Das sei ein Problem für die Ukraine. Das Minsker Friedensabkommen wurde 2015 in der Hauptstadt von Belarus von Russland, der Ukraine, Frankreich und Deutschland unterzeichnet, um den Bürgerkrieg in Luhansk und Donezk zu beenden.
Waffenlieferungen Die Ukraine beklagt, vom Westen, insbesondere Deutschland, nicht ausreichend und schnell genug Waffen geliefert zu bekommen. Nach Angaben aus Kiew hat das Land vom Westen erst rund zehn Prozent der von ihr angeforderten Waffen erhalten. Für die Kämpfe im Donbass hatte Präsident Wolodymyr Selenskyj jüngst unter anderem 500 Panzer, 2000 gepanzerte Fahrzeuge, 1000 Haubitzen und 300 Mehrfachraketenwerfer der USA gefordert.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg erwartet, dass auf dem Nato-Gipfel am 29. und 30. Juni in Madrid ein neues Hilfspaket vereinbart wird. Insbesondere die Lieferung komplexer Luftabwehrsysteme werde aber wegen der nötigen Ausbildung der ukrainischen Kräfte „einige Zeit dauern“, betonte er. Unterdessen kamen auch Nachrichten aus Berlin, allerdings andere als in Kiew erhofft. Deutschland wird der Ukraine zunächst lediglich drei statt vier Mehrfachraketenwerfer vom Typ Mars II liefern. „Ich bin damit, mit dieser Abgabe, an die Grenze gegangen, was ich leisten kann, um nicht zu gefährden, dass wir die Landes- und Bündnisverteidigung als Bundeswehr nicht
mehr gewährleisten können“, sagte Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) nach Beratungen der US-geführten Ukraine-Kontaktgruppe. Lambrecht betonte, dass neben Deutschland auch die USA und Großbritannien der Ukraine Mehrfachraketenwerfer zur Verfügung stellten.
EU-Kandidatenstatus Der Vorsitzende des Bundestagsausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union, Anton Hofreiter (Grüne), erhöhte den Druck auf Scholz. „Bundeskanzler Scholz hat angekündigt, nur in die Ukraine zu reisen, wenn er ein konkretes Angebot mitbringen kann. Ich gehe davon aus, dass er sich an sein Versprechen hält“, sagte Hofreiter unserer Redaktion. „Erfreulich wäre, wenn der Ukraine möglichst bald der EU-Kandidatenstatus verliehen würde. Als wichtiges Signal an die Ukraine und deutliches Zeichen an Putin: Die EU und Europa stehen an der Seite der Ukraine“, sagte Hofreiter. Mehrere EUStaaten, besonders osteuropäische Staaten, unterstützen das Beitrittsersuchen. Die Niederlande, Dänemark und Frankreich standen dem Vorhaben eher skeptisch gegenüber. Auch Scholz äußert sich dazu bislang stets zurückhaltend, die EUKommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte dagegen einen Kandidatenstatus befürwortet.