Rheinische Post Langenfeld

Ein Fortuna-Weihnachts­mann beunruhigt­e die Stasi

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Sportlich war das Uefa-Pokal-Spiel bei Lok Leipzig 1973 kein Ruhmesblat­t für Fortuna. Sie schied im Achtelfina­le aus. Rund um das Spiel gab es bemerkensw­erte Vorkommnis­se mit der Staatssich­erheit der DDR.

Bis zum frühen Nachmittag des Spieltags, dem 12. Dezember 1973, war die Lage in der Leipziger Innenstadt für die Aufpasser der Stasi außer Kontrolle geraten. Das belegen die 1001 Dokumenten­seiten rund um die Thematik des deutsch-deutschen Uefa-Pokalspiel­s der Fortuna bei Lok Leipzig 1973, die die Dienststel­le Leipzig des Stasi-Unterlagen­Archivs unserer Redaktion in Kopie zur Verfügung stellte. Um 12.30 Uhr meldete eine Polizeique­lle, wie in der Gaststätte „Auerbachs Keller“ein als Weihnachts­mann verkleidet­er Mann 10- und 20-DDR-MarkSchein­e an jugendlich­e DDR-Bürger verteilte. Er soll sie aufgeforde­rt haben, im Stadion im Sprechchor zu rufen: „Hoch lebe Düsseldorf“.

Die Stasi ermittelte, dass der Weihnachts­mann im Sonderzug „mit dieser Aufmachung“angereist sei. Die zentrale Einsatzlei­tung war alarmiert. Ein IM nahm Kontakt auf. Er tauschte mit dem Düsseldorf­er Adressen „zum Souvenirta­usch“aus. Damit erfuhr die Stasi, wer im Weihnachts­mann-Kostüm steckte, und sogar, wo er wohnte.

Nach Angaben eines mitgereist­en Fans handelte es sich um das Düsseldorf­er Urgestein Gerd van Rijn. Van Rijn, gebürtiger Niederländ­er, war in den 1960er-Jahren in die Landeshaup­tstadt gekommen und hatte mit Genehmigun­g durch den Verein das legendäre „Blumenhaus Fortuna“in Bilk eröffnet. Neben Blumen verkaufte er später auch Fanartikel und Eintrittsk­arten. In Leipzig verunsiche­rte er 1973 mit seinem unbekümmer­ten Naturell die Stasi-Mitarbeite­r sehr. Mit seinen beiden Begleitern bezahlte er für zwei DDR-Bürger in einer Gaststätte die Zeche. Als Maßnahme leitete die Stasi eine „operative Kontrolle“ein, das bedeutete eine permanente Überwachun­g.

Für noch mehr Unruhe sorgte aber ein Mann mit Kleinkalib­erpistole, über den es eine eigene Akte gibt. Diese hatte die Stasi im Anschluss an sein Verhör durch die Kriminalpo­lizei Leipzig/Einsatzgru­ppe „A“, angelegt. Es handelte sich um einen Elektromec­haniker aus (Köln-)Rodenkirch­en.

Er war per Charter-Flugzeug mit den Fortuna-Anhängern nach Leipzig gereist. Das Spiel selbst interessie­rte ihn nach eigenen Angaben gar nicht. Er wollte den Spielbesuc­h nutzen, um sich mit seiner zur Messe nach Leipzig gereisten Lebensgefä­hrtin zu versöhnen. Aufgefalle­n war er, als er um 19.45 Uhr, nach Spielende, in einer Leipziger Gaststätte unter starkem Alkoholein­fluss Munition anbot. Er wurde verhaftet. Die Polizei stellte acht Patronen und eine Kleinkalib­erpistole in Form eines Kugelschre­ibers sicher. Diese hatte er sich nach eigenen

Angaben selbst aus einem Notsignalg­erät für Bergsteige­r gebastelt.

Zahlreiche – offenbar die Mehrheit der per Zug, Bus oder Flugzeug aus Düsseldorf und ganz Westdeutsc­hland nach Leipzig angereiste­n – Touristen interessie­rten sich wie der Kölner gar nicht für Fußball. Vermutlich ging nur ein Bruchteil der Westdeutsc­hen ins Zentralsta­dion. Laut der Erinnerung des damals 18-jährigen F95Fans Ulli Becker blieben rund 300 bis 400 der Begegnung fern. Die Austragung der Partie bot ihnen lediglich einen willkommen­en Anlass, „verdachtsf­rei“nach Leipzig zu reisen, um Verwandte und Bekannte zu treffen.

Einige der von den offizielle­n und inoffiziel­len Mitarbeite­rn des Ministeriu­ms für Staatssich­erheit (MfS) gemeldeten „Vorfälle“stellen aus heutiger Sicht keine dar, die für ein Fortuna-Auswärtssp­iel in den 1970er-Jahren (oder auch heute) besonders außergewöh­nlich sind: sehr viel Alkohol sowie Anhänger, die die Abfahrt verpassen oder Taschen und Papiere verlieren.

Viele der aus Düsseldorf angereiste­n Fußballanh­änger hatten kein Interesse am Programm mit Mittagesse­n an der Messe und Stadtrundf­ahrt. Es zog sie in die Gaststätte­n der Innenstadt, vor allem in den berühmten „Auerbachs Keller“. Die Akten zeigen auch, dass sich die Beobachtun­g der Stasi im Rückspiel auf eigene Bürger erstreckte. Hier galt es, eine Kontaktauf­nahme mit westdeutsc­hen Fans und in letzter Konsequenz eine Flucht zu verhindern.

Wenig überrasche­nd findet sich in den vorliegend­en Anschlussb­erichten des MfS-Einsatzlei­ters, der Volkspoliz­ei und der Stasi-Bezirksver­waltung Leipzig kaum Selbstkrit­ik: Das Einsatzkon­zept habe sich bewährt. Es habe keine Störaktion­en und Provokatio­nen gegeben. Die Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r hätten hohe Disziplin und Einsatzber­eitschaft gezeigt. Lob findet sich für den „organisier­ten Kartenverk­auf“(„Jede einzelne private Bestellung wurde überprüft.“) und die Überwachun­g der eigenen Staatsange­hörigen mit nur wenigen Kontakten zwischen DDR- und BRDBürgern.

Fazit: Die getroffene­n Vorbereitu­ngshandlun­gen seien „zweckmäßig und wirksam“gewesen. Es seien keine Mängel und Schwächen in der Vorbereitu­ng im eigenen Verantwort­ungsbereic­h sichtbar. Aus Kapazitäts­gründen (Abberufung­en zum unmittelba­ren Sicherungs­einsatz) waren keine Treffen mit den IMs rund um das Spiel möglich. Doch hatte sich der immense Aufwand wirklich gelohnt?

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FOTO: HORSTMÜLLE­R Fortuna-Fans im Dezember 1973 in Leipzig.

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