ESG verschiebt Rechtsrahmen für Unternehmen
Nachhaltigkeits-Vorschriften sind im unternehmerischen Alltag angekommen. Transformationsprozesse sind unausweichlich. Sie bergen aber auch Unsicherheiten. Zusätzlich zum nationalen Recht gelten künftig Regeln des internationalen Rechts unmittelbar. Wer dagegen verstößt, muss mit teuren Haftungsfolgen rechnen.
„Den Folgen des Klimawandels kann sich kein Mensch und auch kein Unternehmen entziehen“, sagt Prof. Dr. Dirk Uwer, Partner der Rechtsanwaltskanzlei Hengeler Mueller. Dementsprechend stehen auch Unternehmen in der Verantwortung, den Folgen des Klimawandels zu begegnen. Unternehmen von heute sind so nicht nur für ihren eigenen wirtschaftlichen Erfolg verantwortlich, sondern zugleich auch für dasWohlergehen der Gesellschaft und des Planeten. „Der gesellschaftliche Bewusstseinswandel setzt sich im Rechtsrahmen fort, der unternehmerisches Handeln regelt und begrenzt“, weiß Uwer, der unter anderem an der FU und der TU Berlin lehrt.
Dies gilt auch und vor allem für Vorschriften rund um die Themenbereiche Umwelt, Soziales und gute Unternehmensführung, auf Englisch Environmental, Social and Corporate Governance oder kurz ESG. Als Beispiel nennt Jurist Uwer die Pflichten zur nichtfinanziellen Berichterstattung, die über das reine Accounting hinausgeht. Erstmals schuf die von der Europäischen Union 2014 eingeführte Berichtspflicht eine unternehmerische Transparenzpflicht für Corporate Social Responsability- (CSR-) Aspekte. „Die in Deutschland seit 2017 geltende Berichtspflicht bewirkt einen faktischen Zwang, Verbesserungen im CSR-Bereich zu erzielen, um sie Gesellschaftern, Investoren und dem Kapitalmarkt berichten zu können“, weiß Uwer. Unternehmen würden so auch im CSR-Bereich zu kontinuierlichem Wachstum angehalten.
ESG-getriebene Entscheidungen sind jedoch längst nicht immer eindeutig. War es beispielsweise bis Jahresbeginn übereinstimmende Ansicht, dass Waffenproduzenten keinen Platz in nachhaltigen Investmentfonds hatten, veränderte der russische Angriffskrieg auf die Ukraine dieseWahrnehmung. Geldanlagen in Waffenproduzenten erscheinen so in anderem Licht. Auch Frankreichs Haltung zum Atomstrom als CO2-emissionsfreie Energiequelle wird aufgrund der Abhängigkeit von russischem Erdgas inzwischen auch in Deutschland nicht mehr nur abgelehnt. „Was nachhaltig und was als Brückentechnologie akzeptabel ist, ist auch immer von äußeren Umständen abhängig“, sagt Uwer.
So verschiebt sich der Rechtsrahmen für Unternehmen in nicht eindeutige Bereiche. „In der alten Welt wusste jeder Unternehmer, was Recht ist. Jetzt drohen die Grenzen legalen unternehmerischen Handelns zu verschwimmen.“Immer neue Regulierungen treten in Kraft, zum Beispiel die EU-Taxonomie, ein Regelwerk, das Aktivitäten von Unternehmen nach ESG-Regeln bewertet. Dies soll Greenwashing vorbeugen. Das Lieferketten-Sorgfaltspflichtengesetz verpflichtet Unternehmen, bislang nur zwischenstaatlich geltende völkerrechtliche Normen unmittelbar zu beachten. Unternehmerisches Handeln wird an der Einhaltung der Menschenrechte entlang der gesamten Lieferkette gemessen.
„Eine zivilrechtliche Haftung, wie sie der EU-Vorschlag für eine Richtlinie zur Corporate Sustainability Due Diligence vorsieht, gab es im deutschen Recht bisher noch nie“, sagt Wirtschaftsanwalt Uwer. Wenn ein deutsches Unternehmen beispielsweise in einer Textilfabrik in Bangladesh oder einer Kakaoplantage in der Elfenbeinküste Kinderarbeit duldet oder Regelungen für Brandschutz oder Arbeitssicherheit missachtet, dann zieht dies künftig neben Sanktionen auch eine Schadensersatzpflicht nach sich.
Betroffene haben bei Nichteinhaltung einen Anspruch auf Entschädigung, „und Nichtregierungsorganisationen werden sie bei dessen Geltendmachung unterstützen“, vermutet Uwer. Die Anforderungen an ein verantwortliches Management von Lieferketten sind dadurch gestiegen. Diese orientieren sich am Sorgfaltsstandard, der sogenannten Due Diligence.„Unternehmen müssen jetzt ihre eigene Wertschöpfungskette vollständig und regelmäßig evaluieren und dies detailliert dokumentieren.“
Auch die Whistleblower-Richtlinie der EU geht in diese Richtung. Die darin festgeschriebene explizite Schutzpflicht für Hinweisgeber führt dazu, dass nicht nur Externe, beispielsweise Staatsanwaltschaften, Missstände aufdecken. Vielmehr zwingt das neue Recht noch mehr dazu, dass Unternehmen sich so organisieren, dass Rechtsverstöße möglichst präventiv ausgeschlossen sind.
Wie vielfältig die Rechtsfragen von Unternehmen rund um ESG sind, zeigen Beispiele aus dem Kanzleialltag: So berät Hengeler Mueller die Finanzagentur des Bundes zur Entwicklung nachhaltiger Finanzierung und Green Bonds. Ein Bankenkonsortium holt sich juristische Hilfestellung bei der Emission der ersten grünen Unternehmensanleihe von RWE. „Derzeit beraten wir auch zum Ausbau der Ladesäuleninfrastruktur für E-Mobilität“, schildert Uwer.
In der alten Welt wusste jeder Unternehmer, was Recht ist – jetzt drohen die Grenzen legalen unternehmerischen Handelns zu verschwimmen
Auf eine Auswirkung der verstärkten ESG-Regeln wird sich die Gesellschaft jedenfalls einstellen müssen: Die Erfüllung der Nachhaltigkeitspflichten muss finanziert werden. Denn mehr Dokumentation und Überprüfungen erfordern mehr Mitarbeiter, höhere Personalkosten können zu Preissteigerungen führen. „ESG-Bürokratiekosten sind das eine“, so Jurist Uwer, „aber gleichzeitig treibt ESG auch Innovationen voran.“Das Düsseldorfer Startup Retraced hat sich zum Beispiel genau dieser Dokumentation von Lieferketten in der Textilindustrie verschrieben.