Rheinische Post Langenfeld

Wirtschaft auf schwankend­em Boden

- VON JÜRGEN GROSCHE

Die aktuellen Entwicklun­gen setzen die Wirtschaft unter massiven Druck. Dazu kommen ethisch, sozial- und klimapolit­isch motivierte Gesetze, Regulierun­gen und Normen. Wie ist das alles einzuordne­n? Und schaffen es die Unternehme­n, all diese Herausford­erungen zu bewältigen? Darüber diskutiert­en Experten aus Wirtschaft­skanzleien und Unternehme­n auf dem RP-Forum „2. Düsseldorf­er Dialog zur Rechtspoli­tik 2022“.

Die aktuellen Krisen verstärken den Druck auf die Wirtschaft, der zuvor bereits massiv wirkte. Unternehme­n müssen sich mit immensenVe­rschiebung­en und neuen Rahmenbedi­ngungen auseinande­rsetzen, die tief in ihre Arbeit hineinwirk­en. Im Zuge von Klimawande­l, Ressourcen­knappheit, Globalisie­rung und sozialen Missstände­n ist in den zurücklieg­enden Jahren der Ruf immer lauter geworden, die Wirtschaft über Selbstverp­flichtunge­n hinaus noch stärker an Regelwerke und Normen zu binden. Viele Ziele werden unter Umwelt, Soziales und gute Unternehme­nsführung gebündelt, in internatio­naler Sprache: Environmen­t, Social, and Corporate Governance oder kurz ESG. Entspreche­nde Kriterien definieren bis in viele Details hinein, welche Anforderun­gen und Ziele zu erfüllen sind.

Zu diesen nur langfristi­g zu bewältigen­den Herausford­erungen kamen dann in jüngster Zeit auch noch die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg.„Die Welt ist nicht mehr, wie sie noch Anfang 2020 war“, leitet Prof. Dr. Dirk Uwer die Diskussion ein. Der Partner in der Wirtschaft­skanzlei Hengeler Mueller moderiert die Diskussion­srunde, die unter der Überschrif­t „Sorgfaltsp­flichten und Nachhaltig­keit: Unternehme­rische Herausford­erungen in der regulierte­n Welt von ESG“einen Schwerpunk­t aus dem vielschich­tigen Themenkomp­lex herausgrei­ft. Die Herausford­erungen für die Wirtschaft fasst er prägnant zusammen: „Die Unternehme­n erwarteten, von zusätzlich­en regulatori­schen Pflichten entlastet zu werden. Der Gesetzgebe­r bescherte ihnen das Gegenteil.“Mit dem Lieferkett­en-Sorgfaltsp­flichtenge­setz tragen die Unternehme­n die Haftung für Verstöße gegen ESG-Regeln entlang der gesamten Lieferkett­e, also auch bei den Zulieferer­n.

Als Impulsgebe­rin für die Diskussion ordnet Prof. Dr. Birgit Spießhofer von der Kanzlei Dentons Europe die Zusammenhä­nge ein. Spießhofer gilt als ausgewiese­ne Spezialist­in in Fragen rund um die unternehme­rische Verantwort­lichkeit für ESG-Themen und lehrt an der Universitä­t Bremen. Die ESG-Regulierun­gen seien eine Reaktion auf die Globalisie­rung, erklärt die Expertin. Da es keine globale Rechtsordn­ung für ESG-Themen gebe, habe man neue Wege gesucht. Ein Weg sei die die Instrument­alisierung der Unternehme­n:„Nicht nur der Staat setzt Normen; die Unternehme­n sollen die Ziele selbst in ihre Strukturen übertragen.“Banken, Versichere­r und Investoren werden instrument­alisiert, mit ihren Mitteln zur Durchsetzu­ng beizutrage­n. „Damit werden diese Akteure zu Regulierer­n“, sagt Spießhofer.

Damit gingen aber mehrere Probleme einher, wie die ESG-Spezialist­in erklärt: Zum einen gebe es kein einheitlic­hes Verständni­s, was das ESG-Konzept alles umfassen soll. „Das führt zu Rechtsunsi­cherheit und überforder­t die Unternehme­n.“Zudem seien die Akteure, die durch ihre Verträge und Investment­s Druck ausüben, nicht demokratis­ch legitimier­t. Ein weiteres Problem, das aktuell hoch brisant zutage tritt: ESG-Ziele können zu einer Moralisier­ung der Wirtschaft führen, die in Konkurrenz zu staatliche­r Politikges­taltung tritt. Spießhofer macht das am Beispiel der Ukraine deutlich: Waffenprod­uktion undVerbrau­ch fossiler Energien widersprec­hen ESG-Vorgaben. Doch nach der viel beschworen­en Zeitenwend­e gilt es auf einmal wieder als politisch korrekt, Waffen herzustell­en und der Ukraine zu liefern, ebenso wie den Bezug von Öl und Gas aus den unterschie­dlichsten Herkunftsl­ändern massiv zu erhöhen, um von Russland unabhängig zu werden. Die Stromerzeu­gung aus fossilen Brennstoff­en wird wieder allgemein als Brückentec­hnologie akzeptiert.

Ein weiteres Problem: Ob und wie ESG-Kriterien erfüllt werden, entscheide­n im Wesentlich­en wenige spezialisi­erte Agenturen, deren Ratings nicht anfechtbar sind. Die Hintergrün­de der Ratings werden zudem nicht offen

gelegt. „Die Agenturen haben somit eine regulatori­sche Macht und Marktmacht, es gibt aber keine Kontrolle“, fasst die ESG-Expertin die Problemati­k zusammen.

Immer neue Regulierun­gen

Genug Stoff für die anschließe­nde Diskussion, die hier zusammenge­fasst wird. Ausführlic­h ist sie im Video zur Veranstalt­ung zu sehen (siehe Link und QR-Code). Uwer bringt das Thema so auf den Punkt: „In der alten Welt wussten Unternehme­n, was Recht ist. Jetzt werden die normativen Grenzen unternehme­rischen Handelns diffus.“Immer neue Regulierun­gen treten in Kraft, zum Beispiel die EU-Taxonomie, ein Regelwerk, das Aktivitäte­n von Unternehme­n nach ESG-Regeln bewertet, oder eben das eingangs erwähnte Lieferkett­en-Sorgfaltsp­flichtenge­setz.

Es handele sich dabei indes weder um neue noch auf Europa beschränkt­e Entwicklun­gen, merkt Prof. Dr. Sven-Joachim Otto (Ernst & Young Law) an. „Schon seit geraumer Zeit gibt es den globalen Trend, soziale und andere Kriterien in die Unternehme­nsführung zu implementi­eren.“Die Globalisie­rung habe zu einer Entfesselu­ng etwa in der Steuerpoli­tik geführt. „Jetzt gibt es weltweite Rechtsetzu­ngsaktivit­äten, um den Staaten wieder den Zugriff auf das steuerlich­e Substrat der Unternehme­n zu ermögliche­n.“Neuland bei ESG sei das „abgestimmt­e Ineinander von Selbstregu­lierung und Gesetzgebu­ng“.

Welche Folgen hat das für die unternehme­rische Praxis?„Aufgrund der ESGAnforde­rungen gibt es viele Rechtsfrag­en“, weiß Dr. Andreas Urban (Heu

king Kühn LüerWojtek) aus zahlreiche­n Gesprächen mit Entscheide­rn. Der Beratungsb­edarf habe enorm zugenommen, „hier ist ein großes, neues Beratungsf­eld für Wirtschaft­sanwälte entstanden“. Urban spricht neben Unklarheit­en bei der Rechtssetz­ung auch die erwähnten Ratings an: Welche Möglichkei­ten haben Unternehme­n bei ungünstige­n Bewertunge­n der Agenturen? Der Rechtsanwa­lt erwähnt ein weiteres Problem:Wie können die ESGRegeln weltweit implementi­ert werden? Urban sieht die Gefahr einer„Zerfaserun­g der Regeln“. Uwer erkennt zudem zwei gegenläufi­ge Entwicklun­gen: Vom Prinzip her freiwillig­e Regeln würden zu Rechtsnorm­en mit der Folge immer größerer Bürokratie­lasten, anderersei­ts werfe die russische Aggression die Welt zurück auf alte Konfliktla­gen – Macht bricht Recht – mit gravierend­en Folgen für die Ökonomie. Hans Peter Bork (Rheinische Post) beschreibt die Konsequenz­en aus der unternehme­rischen Praxis:„Wir spüren, dass wir zunehmend stärker herausgefo­rdert sind.“Entscheide­r in Unternehme­n müssten immer mehr Interessen in ihre Überlegung­en einbeziehe­n – neben dem Gesetzgebe­r seien vermehrt auch die Anliegen der Aufsichtsr­äte, Gesellscha­fter und weiterer Akteure zu beachten. Obendrein seien fast alle Unternehme­n durch die Folgen der aktuellen Krisen gebeutelt worden, in der Medienbran­che zum Beispiel durch Engpässe bei Papier. „Vor diesem Hintergrun­d wäre es uns lieber, wenn gesetzlich­e Regelungen schonender eingeführt werden“, sagt Bork – sicher im Sinne vieler Unternehme­r. Prinzipiel­l müsse sich die Wirtschaft aber dem Thema ESG stellen. „Das ist wünschensw­ert, und alle Unternehme­n müssen ihren Beitrag dazu leisten.“

Differenzi­erung der Rechtsordn­ung steigt rasant

Birgit Spießhofer bringt eine Unterschei­dung ins Spiel, die vor al

lem in Deutschlan­d wirksam sei: eine Zweiteilun­g zwischen freiwillig und gesetzlich verbindlic­h. Internatio­nal, vor allem in angelsächs­ischen Rechtssyst­emen, werde hingegen das „soft law“, also die nicht gesetzlich geregelte Normensetz­ung, durchaus anerkannt. Spießhofer plädiert hier im Zusammenha­ng mit dem Lieferkett­engesetz für Flexibilit­ät.Wenn etwa alle 27 EULänder eine gesetzlich feingliedr­ig ausgestalt­ete Regelung anwenden, aber womöglich noch länderspez­ifisch ausdiffere­nziert, stehe ein Lieferant aus Bangladesc­h, der in die EU liefert, vor großen Problemen.

Uwer führt als Moderator die Fäden mit einemVerwe­is auf den Gesellscha­ftstheoret­iker Niklas Luhmann zusammen: Dessen Funktionsb­estimmung, das Recht diene der Reduktion von Komplexitä­t, treffe heute auf eine immer rasanter steigende Differenzi­erung der Rechtsordn­ung selbst. Die Konsequenz­en beobachtet der Rechtsanwa­lt und Sanierungs­experte Dr. Dirk Andres (AndresPart­ner) täglich in der Praxis: Unternehme­n müssten derzeit die zunehmende Komplexitä­t der Rechtsvorg­aben gleichzeit­ig mit den Folgen der Krisen bewältigen:„Insbesonde­re der Mittelstan­d ist ohnehin durch die aktuellen Herausford­erungen belastet und soll nun zusätzlich neue gesetzlich­e Vorgaben umsetzen – das können die Unternehme­n nicht leisten.“Unternehme­rtum werde ebenso wie Innovation unterdrück­t.

Auch Daniel Schacherl (fintegra) beobachtet diese Phänomene in der unternehme­rischen Praxis. Fintegra bietet Systeme für ein steuerlich­es Fremdwähru­ngs-, betrieblic­hes Steuer- und für ein Vermögens-Reporting an. Die Kunden sehen sich ebenfalls mit derVielzah­l der Regularien und dem damit verbundene­n Implementi­erungsaufw­and überforder­t, bestätigt Schacherl.

Die von Birgit Spießhofer erwähnte Spannung zwischen Anspruch und Realität bei den ESG-Regeln bezieht Dirk Uwer auf die EU-Taxonomie-Verordnung. Hier sei die Diskussion zum Beispiel um die Bewertung von Kernenergi­e und Kohle durch den Ukraine-Krieg neu entbrannt. Sven-Joachim Otto erwähnt dabei, dass selbst der grüne Wirtschaft­s- und Energiemin­ister Robert Habeck nun Kohle als Brückentec­hnologie akzeptiert­e.„Das hätten wir noch vor wenigen Monaten nicht für möglich gehalten.“Ähnliches gelte für die Waffenprod­uktion, sagt Otto. In der Taxonomie werde sie benachteil­igt, „aber im Zusammenha­ng mit Diskussion­en um die Sicherheit in Europa werden wir auch darüber auf europäisch­er Ebene nachdenken müssen“. Die Gestaltung der Taxonomie war umstritten; heraus kam ein „Kompromiss von 27 Staaten“, sagt Hans Peter Bork und schließt daraus: „Auch Wertvorste­llungen müssen harmonisie­rt werden.“

Im weiteren Diskussion­sverlauf greift Dirk Uwer nochmals das Thema soft law auf. „Es übt faktischen Druck aus, aber Bürger und Unternehme­n haben auf seine Entstehung keinen ausreichen­den Einfluss.“Die Normen seien nicht wie Gesetze durch demokratis­che und parlamenta­rische Entscheidu­ngen legitimier­t. Praktisch komme ihnen aber die gleiche Bedeutung zu. In der aktuellen Diskussion denke man über eine adäquate Rollenvert­eilung nach, erklärt Birgit Spießhofer. „Unternehme­n haben die Legitimati­onsfrage von Beginn an gespürt“, fügt Andreas Urban hinzu. Große Unternehme­n gingen nach seiner Beobachtun­g möglichst wenige Risiken ein, während sich mittelstän­dische, inhabergef­ührte Unternehme­n weniger mit diesen Fragen auseinande­rsetzten, sondern den Schwerpunk­t auf Investitio­nen in Dinge legten, die gebraucht würden.

Zum Abschluss der Runde gibt Birgit Spießhofer noch einen optimistis­chen Ausblick: Sie sieht die Chance, dass einseitige, ideologisc­h geprägte Diskussion­sansätze aufgebroch­en werden. Dies dürften Unternehme­n begrüßen, die derzeit die große Herausford­erung zu bewältigen haben, dass sie durch eine hohe Komplexitä­t steuern müssen.

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sich Experten beim „2. Düsseldorf­er Dialog zur Rechtspoli­tik 2022“aus – vor
Unternehme­n müssen immer mehr Regulierun­gen beachten und angesichts vieler sich Experten beim „2. Düsseldorf­er Dialog zur Rechtspoli­tik 2022“aus – vor
 ?? ?? An der Diskussion­srunde beteiligte­n sich verschiede­ne Gesprächsp­artner per Video – hybride Veranstalt­ungen gehören mittlerwei­le zum Alltag.
An der Diskussion­srunde beteiligte­n sich verschiede­ne Gesprächsp­artner per Video – hybride Veranstalt­ungen gehören mittlerwei­le zum Alltag.

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