Wirtschaft auf schwankendem Boden
Die aktuellen Entwicklungen setzen die Wirtschaft unter massiven Druck. Dazu kommen ethisch, sozial- und klimapolitisch motivierte Gesetze, Regulierungen und Normen. Wie ist das alles einzuordnen? Und schaffen es die Unternehmen, all diese Herausforderungen zu bewältigen? Darüber diskutierten Experten aus Wirtschaftskanzleien und Unternehmen auf dem RP-Forum „2. Düsseldorfer Dialog zur Rechtspolitik 2022“.
Die aktuellen Krisen verstärken den Druck auf die Wirtschaft, der zuvor bereits massiv wirkte. Unternehmen müssen sich mit immensenVerschiebungen und neuen Rahmenbedingungen auseinandersetzen, die tief in ihre Arbeit hineinwirken. Im Zuge von Klimawandel, Ressourcenknappheit, Globalisierung und sozialen Missständen ist in den zurückliegenden Jahren der Ruf immer lauter geworden, die Wirtschaft über Selbstverpflichtungen hinaus noch stärker an Regelwerke und Normen zu binden. Viele Ziele werden unter Umwelt, Soziales und gute Unternehmensführung gebündelt, in internationaler Sprache: Environment, Social, and Corporate Governance oder kurz ESG. Entsprechende Kriterien definieren bis in viele Details hinein, welche Anforderungen und Ziele zu erfüllen sind.
Zu diesen nur langfristig zu bewältigenden Herausforderungen kamen dann in jüngster Zeit auch noch die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg.„Die Welt ist nicht mehr, wie sie noch Anfang 2020 war“, leitet Prof. Dr. Dirk Uwer die Diskussion ein. Der Partner in der Wirtschaftskanzlei Hengeler Mueller moderiert die Diskussionsrunde, die unter der Überschrift „Sorgfaltspflichten und Nachhaltigkeit: Unternehmerische Herausforderungen in der regulierten Welt von ESG“einen Schwerpunkt aus dem vielschichtigen Themenkomplex herausgreift. Die Herausforderungen für die Wirtschaft fasst er prägnant zusammen: „Die Unternehmen erwarteten, von zusätzlichen regulatorischen Pflichten entlastet zu werden. Der Gesetzgeber bescherte ihnen das Gegenteil.“Mit dem Lieferketten-Sorgfaltspflichtengesetz tragen die Unternehmen die Haftung für Verstöße gegen ESG-Regeln entlang der gesamten Lieferkette, also auch bei den Zulieferern.
Als Impulsgeberin für die Diskussion ordnet Prof. Dr. Birgit Spießhofer von der Kanzlei Dentons Europe die Zusammenhänge ein. Spießhofer gilt als ausgewiesene Spezialistin in Fragen rund um die unternehmerische Verantwortlichkeit für ESG-Themen und lehrt an der Universität Bremen. Die ESG-Regulierungen seien eine Reaktion auf die Globalisierung, erklärt die Expertin. Da es keine globale Rechtsordnung für ESG-Themen gebe, habe man neue Wege gesucht. Ein Weg sei die die Instrumentalisierung der Unternehmen:„Nicht nur der Staat setzt Normen; die Unternehmen sollen die Ziele selbst in ihre Strukturen übertragen.“Banken, Versicherer und Investoren werden instrumentalisiert, mit ihren Mitteln zur Durchsetzung beizutragen. „Damit werden diese Akteure zu Regulierern“, sagt Spießhofer.
Damit gingen aber mehrere Probleme einher, wie die ESG-Spezialistin erklärt: Zum einen gebe es kein einheitliches Verständnis, was das ESG-Konzept alles umfassen soll. „Das führt zu Rechtsunsicherheit und überfordert die Unternehmen.“Zudem seien die Akteure, die durch ihre Verträge und Investments Druck ausüben, nicht demokratisch legitimiert. Ein weiteres Problem, das aktuell hoch brisant zutage tritt: ESG-Ziele können zu einer Moralisierung der Wirtschaft führen, die in Konkurrenz zu staatlicher Politikgestaltung tritt. Spießhofer macht das am Beispiel der Ukraine deutlich: Waffenproduktion undVerbrauch fossiler Energien widersprechen ESG-Vorgaben. Doch nach der viel beschworenen Zeitenwende gilt es auf einmal wieder als politisch korrekt, Waffen herzustellen und der Ukraine zu liefern, ebenso wie den Bezug von Öl und Gas aus den unterschiedlichsten Herkunftsländern massiv zu erhöhen, um von Russland unabhängig zu werden. Die Stromerzeugung aus fossilen Brennstoffen wird wieder allgemein als Brückentechnologie akzeptiert.
Ein weiteres Problem: Ob und wie ESG-Kriterien erfüllt werden, entscheiden im Wesentlichen wenige spezialisierte Agenturen, deren Ratings nicht anfechtbar sind. Die Hintergründe der Ratings werden zudem nicht offen
gelegt. „Die Agenturen haben somit eine regulatorische Macht und Marktmacht, es gibt aber keine Kontrolle“, fasst die ESG-Expertin die Problematik zusammen.
Immer neue Regulierungen
Genug Stoff für die anschließende Diskussion, die hier zusammengefasst wird. Ausführlich ist sie im Video zur Veranstaltung zu sehen (siehe Link und QR-Code). Uwer bringt das Thema so auf den Punkt: „In der alten Welt wussten Unternehmen, was Recht ist. Jetzt werden die normativen Grenzen unternehmerischen Handelns diffus.“Immer neue Regulierungen treten in Kraft, zum Beispiel die EU-Taxonomie, ein Regelwerk, das Aktivitäten von Unternehmen nach ESG-Regeln bewertet, oder eben das eingangs erwähnte Lieferketten-Sorgfaltspflichtengesetz.
Es handele sich dabei indes weder um neue noch auf Europa beschränkte Entwicklungen, merkt Prof. Dr. Sven-Joachim Otto (Ernst & Young Law) an. „Schon seit geraumer Zeit gibt es den globalen Trend, soziale und andere Kriterien in die Unternehmensführung zu implementieren.“Die Globalisierung habe zu einer Entfesselung etwa in der Steuerpolitik geführt. „Jetzt gibt es weltweite Rechtsetzungsaktivitäten, um den Staaten wieder den Zugriff auf das steuerliche Substrat der Unternehmen zu ermöglichen.“Neuland bei ESG sei das „abgestimmte Ineinander von Selbstregulierung und Gesetzgebung“.
Welche Folgen hat das für die unternehmerische Praxis?„Aufgrund der ESGAnforderungen gibt es viele Rechtsfragen“, weiß Dr. Andreas Urban (Heu
king Kühn LüerWojtek) aus zahlreichen Gesprächen mit Entscheidern. Der Beratungsbedarf habe enorm zugenommen, „hier ist ein großes, neues Beratungsfeld für Wirtschaftsanwälte entstanden“. Urban spricht neben Unklarheiten bei der Rechtssetzung auch die erwähnten Ratings an: Welche Möglichkeiten haben Unternehmen bei ungünstigen Bewertungen der Agenturen? Der Rechtsanwalt erwähnt ein weiteres Problem:Wie können die ESGRegeln weltweit implementiert werden? Urban sieht die Gefahr einer„Zerfaserung der Regeln“. Uwer erkennt zudem zwei gegenläufige Entwicklungen: Vom Prinzip her freiwillige Regeln würden zu Rechtsnormen mit der Folge immer größerer Bürokratielasten, andererseits werfe die russische Aggression die Welt zurück auf alte Konfliktlagen – Macht bricht Recht – mit gravierenden Folgen für die Ökonomie. Hans Peter Bork (Rheinische Post) beschreibt die Konsequenzen aus der unternehmerischen Praxis:„Wir spüren, dass wir zunehmend stärker herausgefordert sind.“Entscheider in Unternehmen müssten immer mehr Interessen in ihre Überlegungen einbeziehen – neben dem Gesetzgeber seien vermehrt auch die Anliegen der Aufsichtsräte, Gesellschafter und weiterer Akteure zu beachten. Obendrein seien fast alle Unternehmen durch die Folgen der aktuellen Krisen gebeutelt worden, in der Medienbranche zum Beispiel durch Engpässe bei Papier. „Vor diesem Hintergrund wäre es uns lieber, wenn gesetzliche Regelungen schonender eingeführt werden“, sagt Bork – sicher im Sinne vieler Unternehmer. Prinzipiell müsse sich die Wirtschaft aber dem Thema ESG stellen. „Das ist wünschenswert, und alle Unternehmen müssen ihren Beitrag dazu leisten.“
Differenzierung der Rechtsordnung steigt rasant
Birgit Spießhofer bringt eine Unterscheidung ins Spiel, die vor al
lem in Deutschland wirksam sei: eine Zweiteilung zwischen freiwillig und gesetzlich verbindlich. International, vor allem in angelsächsischen Rechtssystemen, werde hingegen das „soft law“, also die nicht gesetzlich geregelte Normensetzung, durchaus anerkannt. Spießhofer plädiert hier im Zusammenhang mit dem Lieferkettengesetz für Flexibilität.Wenn etwa alle 27 EULänder eine gesetzlich feingliedrig ausgestaltete Regelung anwenden, aber womöglich noch länderspezifisch ausdifferenziert, stehe ein Lieferant aus Bangladesch, der in die EU liefert, vor großen Problemen.
Uwer führt als Moderator die Fäden mit einemVerweis auf den Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann zusammen: Dessen Funktionsbestimmung, das Recht diene der Reduktion von Komplexität, treffe heute auf eine immer rasanter steigende Differenzierung der Rechtsordnung selbst. Die Konsequenzen beobachtet der Rechtsanwalt und Sanierungsexperte Dr. Dirk Andres (AndresPartner) täglich in der Praxis: Unternehmen müssten derzeit die zunehmende Komplexität der Rechtsvorgaben gleichzeitig mit den Folgen der Krisen bewältigen:„Insbesondere der Mittelstand ist ohnehin durch die aktuellen Herausforderungen belastet und soll nun zusätzlich neue gesetzliche Vorgaben umsetzen – das können die Unternehmen nicht leisten.“Unternehmertum werde ebenso wie Innovation unterdrückt.
Auch Daniel Schacherl (fintegra) beobachtet diese Phänomene in der unternehmerischen Praxis. Fintegra bietet Systeme für ein steuerliches Fremdwährungs-, betriebliches Steuer- und für ein Vermögens-Reporting an. Die Kunden sehen sich ebenfalls mit derVielzahl der Regularien und dem damit verbundenen Implementierungsaufwand überfordert, bestätigt Schacherl.
Die von Birgit Spießhofer erwähnte Spannung zwischen Anspruch und Realität bei den ESG-Regeln bezieht Dirk Uwer auf die EU-Taxonomie-Verordnung. Hier sei die Diskussion zum Beispiel um die Bewertung von Kernenergie und Kohle durch den Ukraine-Krieg neu entbrannt. Sven-Joachim Otto erwähnt dabei, dass selbst der grüne Wirtschafts- und Energieminister Robert Habeck nun Kohle als Brückentechnologie akzeptierte.„Das hätten wir noch vor wenigen Monaten nicht für möglich gehalten.“Ähnliches gelte für die Waffenproduktion, sagt Otto. In der Taxonomie werde sie benachteiligt, „aber im Zusammenhang mit Diskussionen um die Sicherheit in Europa werden wir auch darüber auf europäischer Ebene nachdenken müssen“. Die Gestaltung der Taxonomie war umstritten; heraus kam ein „Kompromiss von 27 Staaten“, sagt Hans Peter Bork und schließt daraus: „Auch Wertvorstellungen müssen harmonisiert werden.“
Im weiteren Diskussionsverlauf greift Dirk Uwer nochmals das Thema soft law auf. „Es übt faktischen Druck aus, aber Bürger und Unternehmen haben auf seine Entstehung keinen ausreichenden Einfluss.“Die Normen seien nicht wie Gesetze durch demokratische und parlamentarische Entscheidungen legitimiert. Praktisch komme ihnen aber die gleiche Bedeutung zu. In der aktuellen Diskussion denke man über eine adäquate Rollenverteilung nach, erklärt Birgit Spießhofer. „Unternehmen haben die Legitimationsfrage von Beginn an gespürt“, fügt Andreas Urban hinzu. Große Unternehmen gingen nach seiner Beobachtung möglichst wenige Risiken ein, während sich mittelständische, inhabergeführte Unternehmen weniger mit diesen Fragen auseinandersetzten, sondern den Schwerpunkt auf Investitionen in Dinge legten, die gebraucht würden.
Zum Abschluss der Runde gibt Birgit Spießhofer noch einen optimistischen Ausblick: Sie sieht die Chance, dass einseitige, ideologisch geprägte Diskussionsansätze aufgebrochen werden. Dies dürften Unternehmen begrüßen, die derzeit die große Herausforderung zu bewältigen haben, dass sie durch eine hohe Komplexität steuern müssen.