TOTAL DIGITAL Der allwissende Doktor Tiktok
Das soziale Medium nutzt Neugierde über die eigene Psyche gnadenlos aus.
Mittlerweile ist es eine anerkannte Wahrheit, dass „die Internet-Algorithmen“uns vielfach besser kennen als wir uns selbst. Kein Algorithmus scheint der Allwissenheit näher zu sein als der von Tiktok. Während Facebook, Instagram & Co. noch aktiv auffordern, ein Profil anzulegen und persönliche Informationen preiszugeben, erkennt Tiktok die einfach – zumindest scheint es so. Während die meisten Nutzer von einer der vielen Subkulturen wie „Witchtok“(für Esoterik-Affine), „Fittok“(für Fitness-Verrückte) oder Anleitungen zur Gartenarbeit in den Bann gezogen werden, landen viele andere in der Gesundheitsblase (der Hashtag „Mental Health“hat aktuell 37 Milliarden Aufrufe). Die „Diagnose“wird in der Regel von jemandem vorgetragen, der behauptet, ein Therapeut oder „Coach“zu sein. Dazu gibt es bunten Text und traurige Klaviermusik. Im Anschluss wollen sie Dienstleistungen verkaufen.
Die Ehrerbietung, die den pseudopsychiatrischen Inhalten auf Tiktok entgegengebracht wird, ist teils besorgniserregend. Während Empfehlungsalgorithmen von Plattformen wie Amazon und Netflix darauf ausgelegt sind zu erraten, was man sehen möchte, kann es sich bei Tiktok so anfühlen, als würde es einem zeigen, wer man schon immer gewesen ist. In diesem Prozess öffnen wir uns der Gefahr, die Selbstwahrnehmung an die Künstliche Intelligenz auszulagern. Diese neue Beziehung zur digitalen Welt mag zwar neue Möglichkeiten für die persönliche Entwicklung bieten, aber sie fördert die Einsortierung in immer starrere Identitäten. Eigentlich ist es so, dass Tiktok lediglich zeigt, wohin die Aufmerksamkeit gerichtet ist – oder wohin sie gehen würde, wenn man von allen sozialen Normen befreit wäre, die einen offline im Zaum halten. Es ist wie ein Schminkspiegel, der gewisse Teile des Spiegelbilds stark vergrößert, die man sonst nicht scharf erkennen könnte. Tiktok ist darauf ausgelegt, jede Neugierde gnadenlos auszunutzen. Und falls es immer noch nicht klar ist: Die wahre Motivation ist nicht die Psychoanalyse, sondern der Profit.