Familienpolitik ohne Ideologie
ANALYSE Ein radikal neues gesellschaftliches Leitbild stand zunächst auf dem Programm des Familienministeriums. Inzwischen, nach einem Ministerinnenwechsel, geht es mehr um praktische Politik, die Revolution ist abgesagt.
Die neue Familienministerin Lisa Paus (Grüne) liebt klareWorte. Die Einführung einer Kindergrundsicherung ist für die frühere Finanzpolitikerin die wichtigste Aufgabe ihres Ressorts. Das klang bei Vorgängerin Anne Spiegel (Grüne), die wegen eines privaten Urlaubs während der Flutkatastrophe im Ahrtal vorzeitig abtreten musste, anders. Die gescheiterte Parteilinke hatte weitreichendere Vorstellungen. Sie wollte die neue Versorgungsgemeinschaft als mögliche Alternative zur
Ehe etablieren, alle Kinder finanziell gleichstellen und die Erziehungsarbeit paritätisch aufteilen. Ihre Nachfolgerin konzentriert sich auf das Machbare: „Wir brauchen eine materielle Verbesserung für alle Familien im Land“, sagte sie unlängst dem „Spiegel“.
Das Stichwort heißt Kindergrundsicherung, mit der die Ampelkoalition und zuvorderst die Grünen versuchen, die Familienförderung zu reformieren. Dabei spricht zuallererst ein sachliches Argument für die Neuerung. Mehr als 160 einzelne finanzielle Instrumente sollen Menschen mit Kindern entlasten. Einige dieser Leistungen will die neue Bundesregierung nun zusammenfassen – das Kindergeld, den Zuschlag dazu, die Hartz-IV-Sätze und die Transfers zur Unterstützung ärmerer Eltern. Es geht also vor allem um eine Vereinfachung, frei von allen politischen Zielvorstellungen. Aber es passt auch zu grüner Programmatik. Denn für Bezieher höherer Einkommen übernimmt derzeit das Finanzamt die Prüfung, ob es günstiger ist, Kindergeld zu beziehen oder Steuern über den Kinderfreibetrag zu sparen. Am unteren Ende der Einkommensskala müssen aber die Familien für jede einzelne Leistung einen eigenen komplizierten Antrag stellen. Etliche sind damit überfordert und nehmen die für sie gedachten Zuwendungen nicht in Anspruch.
Für die Grünen – und auch die SPD – ist das neu geplante Verfahren ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit. Zusätzlich möchte man den ärmeren Familien auch mehr Geld zuweisen – über das soziokulturelle Minimum. Derzeit liegt es für Kinder bei 5460 Euro pro Jahr. Das ist für beide Parteien viel zu wenig. Eine Größenordnung von 600 Euro monatlich wäre schon eher nach dem Geschmack von Grünen und SPD, aber mit der FDP wohl nicht umsetzbar.
Die Familienpolitiker der Ampelkoalition wählen deshalb einen anderen Weg. In sechs verschiedenen Arbeitsgruppen der beteiligten Ministerien sollen die Grundzüge der Kindergrundsicherung vorbereitet werden, sagt eine Sprecherin des Bundesfamilienministeriums. Die wichtigste dürfte diejenige sein, die das Existenzminimum festlegt. Sie ist beim Bundesarbeitsministerium angedockt. Danach kann es in die finale Phase gehen, die für das kommende Jahr geplant ist. Das Ziel hat die langjährige familienpolitische Sprecherin der Grünen, Ekin Deligöz, formuliert, die jetzt ihre Parteifreundin Paus als Parlamentarische Staatssekretärin im Familienressort unterstützt: „Die Kindergrundsicherung sollte das soziokulturelle Existenzminimum sichern, automatisch ausgezahlt werden und perspektivisch eine ausreichende materielle Absicherung nach unten sein.“
Das klingt nicht wie eine Revolution in der Familienpolitik oder ein völlig neues Bild der Kinderförderung. Am Ende geht es darum, Familien gegenüber Kinderlosen zu entlasten, ohne eine plumpe Bevölkerungspolitik mit höheren Geburtenraten zu betreiben. „Das ist doch der Konsens aller demokratischen Parteien“, meint die Familienpolitikerin Deligöz.
Eine echte Revolution wäre die Abschaffung des Ehegattensplittings, die Einführung einer Grundsicherung, die von der Steuerschuld abgezogen werden könnte und damit ärmere und reichere Familien exakt um den gleichen Geldbetrag entlasten würde. Doch beides kommt nicht infrage:Weder will die Ampelkoalition – vor allem auf Betreiben der FDP – das Ehegattensplitting abschaffen. Noch ist an einen Ersatz für den Kinderfreibetrag von 5460 Euro gedacht, bei dem einkommensstärkere Familien steuerlich auch stärker entlastet werden. Lediglich der Freibetrag für die Erziehungs-, Betreuungs- und Ausbildungskosten, der derzeit 2928 Euro beträgt, ist im Visier der Familienpolitiker der Ampelkoalition, wenn ab 2026 die Ganztagesbetreuung flächendeckend durchgesetzt ist. „Der Rechtsanspruch auf Ganztagesbetreuung kann dazu führen, dass der Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsfreibetrag abgesenkt werden kann“, meint Deligöz.
Am Ende sind die Pläne der Ampel so ausgewogen, dass sie sogar den Beifall der in solchen Fällen sonst eher kritischen Fachwissenschaft finden. „Es ist ein guter Gedanke, alle komplizierten Leistungen für den Nachwuchs zu einer einheitlichen Kindergrundsicherung zusammenzufassen“, meint der Finanzwissenschaftler Johannes Becker, der als Professor an der Universität Münster lehrt.
Bei so viel Pragmatismus und so wenig Ideologie wird es für die Opposition schwer werden dagegenzuhalten. „Wir wollen die Familien entlasten und stabilisieren. Die individuelle Entscheidung für Kinder darf nicht zu erheblichen Einkommensausfällen oder gar Armut führen“, führt Staatssekretärin Deligöz aus. „Eine großzügige Kinderförderung senkt entscheidend das Armutsrisiko. Das trifft vor allem Alleinerziehende“, sekundiert ihr der Finanzwissenschaftler Becker. Dass die neue Familienministerin Paus dem linken Flügel der Grünen angehört, ist ihrer Politik nicht anzusehen.
„Die individuelle Entscheidung für Kinder darf nicht zur Armut führen“Ekin Deligöz Staatssekretärin im Familienministerium