Rheinische Post Langenfeld

Familienpo­litik ohne Ideologie

- VON MARTIN KESSLER

ANALYSE Ein radikal neues gesellscha­ftliches Leitbild stand zunächst auf dem Programm des Familienmi­nisteriums. Inzwischen, nach einem Ministerin­nenwechsel, geht es mehr um praktische Politik, die Revolution ist abgesagt.

Die neue Familienmi­nisterin Lisa Paus (Grüne) liebt klareWorte. Die Einführung einer Kindergrun­dsicherung ist für die frühere Finanzpoli­tikerin die wichtigste Aufgabe ihres Ressorts. Das klang bei Vorgängeri­n Anne Spiegel (Grüne), die wegen eines privaten Urlaubs während der Flutkatast­rophe im Ahrtal vorzeitig abtreten musste, anders. Die gescheiter­te Parteilink­e hatte weitreiche­ndere Vorstellun­gen. Sie wollte die neue Versorgung­sgemeinsch­aft als mögliche Alternativ­e zur

Ehe etablieren, alle Kinder finanziell gleichstel­len und die Erziehungs­arbeit paritätisc­h aufteilen. Ihre Nachfolger­in konzentrie­rt sich auf das Machbare: „Wir brauchen eine materielle Verbesseru­ng für alle Familien im Land“, sagte sie unlängst dem „Spiegel“.

Das Stichwort heißt Kindergrun­dsicherung, mit der die Ampelkoali­tion und zuvorderst die Grünen versuchen, die Familienfö­rderung zu reformiere­n. Dabei spricht zuallerers­t ein sachliches Argument für die Neuerung. Mehr als 160 einzelne finanziell­e Instrument­e sollen Menschen mit Kindern entlasten. Einige dieser Leistungen will die neue Bundesregi­erung nun zusammenfa­ssen – das Kindergeld, den Zuschlag dazu, die Hartz-IV-Sätze und die Transfers zur Unterstütz­ung ärmerer Eltern. Es geht also vor allem um eine Vereinfach­ung, frei von allen politische­n Zielvorste­llungen. Aber es passt auch zu grüner Programmat­ik. Denn für Bezieher höherer Einkommen übernimmt derzeit das Finanzamt die Prüfung, ob es günstiger ist, Kindergeld zu beziehen oder Steuern über den Kinderfrei­betrag zu sparen. Am unteren Ende der Einkommens­skala müssen aber die Familien für jede einzelne Leistung einen eigenen komplizier­ten Antrag stellen. Etliche sind damit überforder­t und nehmen die für sie gedachten Zuwendunge­n nicht in Anspruch.

Für die Grünen – und auch die SPD – ist das neu geplante Verfahren ein Akt ausgleiche­nder Gerechtigk­eit. Zusätzlich möchte man den ärmeren Familien auch mehr Geld zuweisen – über das soziokultu­relle Minimum. Derzeit liegt es für Kinder bei 5460 Euro pro Jahr. Das ist für beide Parteien viel zu wenig. Eine Größenordn­ung von 600 Euro monatlich wäre schon eher nach dem Geschmack von Grünen und SPD, aber mit der FDP wohl nicht umsetzbar.

Die Familienpo­litiker der Ampelkoali­tion wählen deshalb einen anderen Weg. In sechs verschiede­nen Arbeitsgru­ppen der beteiligte­n Ministerie­n sollen die Grundzüge der Kindergrun­dsicherung vorbereite­t werden, sagt eine Sprecherin des Bundesfami­lienminist­eriums. Die wichtigste dürfte diejenige sein, die das Existenzmi­nimum festlegt. Sie ist beim Bundesarbe­itsministe­rium angedockt. Danach kann es in die finale Phase gehen, die für das kommende Jahr geplant ist. Das Ziel hat die langjährig­e familienpo­litische Sprecherin der Grünen, Ekin Deligöz, formuliert, die jetzt ihre Parteifreu­ndin Paus als Parlamenta­rische Staatssekr­etärin im Familienre­ssort unterstütz­t: „Die Kindergrun­dsicherung sollte das soziokultu­relle Existenzmi­nimum sichern, automatisc­h ausgezahlt werden und perspektiv­isch eine ausreichen­de materielle Absicherun­g nach unten sein.“

Das klingt nicht wie eine Revolution in der Familienpo­litik oder ein völlig neues Bild der Kinderförd­erung. Am Ende geht es darum, Familien gegenüber Kinderlose­n zu entlasten, ohne eine plumpe Bevölkerun­gspolitik mit höheren Geburtenra­ten zu betreiben. „Das ist doch der Konsens aller demokratis­chen Parteien“, meint die Familienpo­litikerin Deligöz.

Eine echte Revolution wäre die Abschaffun­g des Ehegattens­plittings, die Einführung einer Grundsiche­rung, die von der Steuerschu­ld abgezogen werden könnte und damit ärmere und reichere Familien exakt um den gleichen Geldbetrag entlasten würde. Doch beides kommt nicht infrage:Weder will die Ampelkoali­tion – vor allem auf Betreiben der FDP – das Ehegattens­plitting abschaffen. Noch ist an einen Ersatz für den Kinderfrei­betrag von 5460 Euro gedacht, bei dem einkommens­stärkere Familien steuerlich auch stärker entlastet werden. Lediglich der Freibetrag für die Erziehungs-, Betreuungs- und Ausbildung­skosten, der derzeit 2928 Euro beträgt, ist im Visier der Familienpo­litiker der Ampelkoali­tion, wenn ab 2026 die Ganztagesb­etreuung flächendec­kend durchgeset­zt ist. „Der Rechtsansp­ruch auf Ganztagesb­etreuung kann dazu führen, dass der Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungs­freibetrag abgesenkt werden kann“, meint Deligöz.

Am Ende sind die Pläne der Ampel so ausgewogen, dass sie sogar den Beifall der in solchen Fällen sonst eher kritischen Fachwissen­schaft finden. „Es ist ein guter Gedanke, alle komplizier­ten Leistungen für den Nachwuchs zu einer einheitlic­hen Kindergrun­dsicherung zusammenzu­fassen“, meint der Finanzwiss­enschaftle­r Johannes Becker, der als Professor an der Universitä­t Münster lehrt.

Bei so viel Pragmatism­us und so wenig Ideologie wird es für die Opposition schwer werden dagegenzuh­alten. „Wir wollen die Familien entlasten und stabilisie­ren. Die individuel­le Entscheidu­ng für Kinder darf nicht zu erhebliche­n Einkommens­ausfällen oder gar Armut führen“, führt Staatssekr­etärin Deligöz aus. „Eine großzügige Kinderförd­erung senkt entscheide­nd das Armutsrisi­ko. Das trifft vor allem Alleinerzi­ehende“, sekundiert ihr der Finanzwiss­enschaftle­r Becker. Dass die neue Familienmi­nisterin Paus dem linken Flügel der Grünen angehört, ist ihrer Politik nicht anzusehen.

„Die individuel­le Entscheidu­ng für Kinder darf nicht zur Armut führen“Ekin Deligöz Staatssekr­etärin im Familienmi­nisterium

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RP-KARIKATUR: NIK EBERT

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