„Die Tür nach Europa muss offen stehen“
Die Fraktionsvorsitzende der Grünen über einen EU-Beitritt der Ukraine, Versorgungssicherheit im Winter und eine stabile Regierung.
Frau Haßelmann, macht die Ampel noch Spaß?
HASSELMANN Ich bin sehr froh über die Regierungsbeteiligung der Grünen, auch wenn wir in einer schwierigen Zeit leben.Wir müssen gerade mehrere Krisen gleichzeitig bewältigen: Corona, Klima, Krieg, steigende Energiepreise, Inflation. Aber wir regieren stabil und arbeiten gut zusammen.
Muss der Tankrabatt nicht sofort als Fehlentscheidung wieder kassiert werden – weil ohne Wirkung? HASSELMANN Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat darauf reagiert und will die Energiekonzerne mit einer Änderung des Kartellrechts stärker kontrollieren lassen. Die Wettbewerbshüter sollen künftig beim Verdacht auf Preisabsprachen sehr viel früher als derzeit in den Markt eingreifen und handeln können. Das ist perspektivisch eine Stärkung derVerbraucherinnen und Verbraucher. Die zeitlich befristete Absenkung der Mineralölsteuer war jedenfalls nicht das Lieblingsprojekt der Grünen, sondern ein notwendiger Kompromiss innerhalb der Ampelkoalition.
Hartz-IV-Bezieher sollen beim Neun-Euro-Ticket nun die Preisdifferenz für ihr bis zu 50 Euro teures Schülerticket zurückzahlen. Wollten die Grünen Menschen mit geringen Einkommen nicht entlasten? HASSELMANN Erst einmal: Das NeunEuro-Ticket ist mit bisher 16 Millionen verkauften Fahrkarten eine Erfolgsgeschichte. Man kann also Bus und Bahn mit passenden Angeboten attraktiver machen. Ich finde, die Koalition muss gerade mit Blick auf Menschen mit sehr, sehr wenig Geld nachsteuern. Denn schon jetzt können viele die deutlich gestiegenen Lebensmittelpreise und Energiekosten nicht mehr stemmen. Ich finde es richtig, dass Hartz-IV-Bezieher auch für die begrenzte Zeit des Neun-Euro-Tickets nicht die Preisdifferenz etwa zum Schülerticket zurückzahlen müssten. Das müssen wir prüfen.
Russland hat die Gaslieferungen gekürzt. Worauf müssen wir Deutschen uns im Winter einstellen?
HASSELMANN Dass Gazprom derzeit tatsächlichWartungsarbeiten an der Pipeline Nord Stream 1 durchführen lässt und deswegen aktuell weniger Gas durchleitet, halte ich für eine vorgeschobene Geschichte.Wir müssen der Realität ins Auge sehen und vermutlich im nächstenWinter mit weniger Gas aus Russland auskommen. Umso wichtiger ist es, unseren Verbrauch zu senken, Energie einzusparen und Energieeffizienz zu steigern.
Wie schnell kann und soll die Ukraine Mitglied der EU werden?
HASSELMANN Wir haben immer gesagt, dass die Tür nach Europa für die Ukraine offen stehen muss. Dass sich der Bundeskanzler so klar für den Kandidatenstatus für die Ukraine und Moldau ausspricht, ist genau die richtige Entscheidung zur richtigen Zeit. Ja, wir müssen auch die anderen Staaten etwa desWestbalkans im Blick behalten, die seit Jahren auf ihre EU-Mitgliedschaft hinarbeiten, deswegen war die Reise des Kanzlers auch dorthin sehr wichtig. Aber die Unterstützung der Beitrittsperspektive ist ein klares und unmissverständliches Signal an alle Ukrainerinnen und Ukrainer: Wir stehen in dieser schwierigen und historischen Situation an eurer Seite. Ich hoffe, dass auch die EU-Kommission und andere EU-Mitglieder der Ukraine und Moldau diese Zustimmung für eine europäische Perspektive geben.
Deutschland steht wegen seiner Zögerlichkeit bei Waffenlieferungen in der Kritik. Muss die Bundesregierung mutiger werden? HASSELMANN Wir müssen vor allem deutlicher machen, was wir tun.Wir liefern Waffen – auch schwere Waffen –, aber dazu braucht es einen Vorlauf für Planung und auch Ausbildung. Das müssen wir viel stärker herausstellen, damit die Erwartungshaltung klar und nicht zu hoch ist. An der Artillerieschule des Heeres in Idar-Oberstein werden gerade ukrainische Soldaten an der Panzerhaubitze 2000 ausgebildet – in nur 40 Tagen. Normalerweise dauert die Ausbildung fünf Monate.
Deutschland scheint besonders viel Vorlauf zu brauchen, während andere Staaten schneller liefern. Was läuft da schief?
HASSELMANN Auch wenn ich mir selbst wünsche, dass es schneller geht, muss ich ja zur Kenntnis nehmen, dass es dauert, bis die Waffen auch in der Ukraine ankommen.Wir liefern, was wir verantworten können. Die Bestände der Bundeswehr sind nach Jahren der Mangelwirtschaft durch die Union im Verteidigungsministerium in einem miserablen Zustand.
Warum destabilisieren Ampel-Vertreter wie Anton Hofreiter und Marie-Agnes Strack-Zimmermann mit ihrer Kritik immer wieder den eigenen Kanzler?
HASSELMANN Das Wichtige für die Ukraine ist, dass wir Unterstützung leisten und dass wir alles tun, was möglich ist.Wir haben überWaffenlieferungen und andere Hilfen und Unterstützung vielleicht öffentlich nicht so viel geredet, wie wir das hätten tun sollen. Deshalb bin ich froh, dass jetzt aus der Bundesregierung klarer kommuniziert wird.
Aber Ex-Fraktionschef Hofreiter setzt seine Kanzler-Kritik fort.
HASSELMANN Ich schätze Toni: Wir kennen uns seit vielen Jahren. Als Fraktionsvorsitzende konzentriere ich mich darauf an jeder Stelle, ob in der Ampel, mit der Bundesregierung oder aus dem Parlament heraus, Gemeinsamkeiten zu suchen und gemeinsame Signale der Solidarität an die Ukraine zu senden.
Die Corona-Infektionszahlen steigen wieder. Ein Grund ist der Wegfall der Schutzmaßnahmen. Zahlen wir dafür mit einem sehr harten Herbst und Winter? HASSELMANN Wir müssen als Bundesregierung und Parlament schon jetzt vorausschauend Vorsorge für den Herbst und Winter treffen. Der Expertenrat der Bundesregierung hat uns eindringlich ermahnt, dass wir uns auf alle möglichen Szenarien vorbereiten müssen. Wer politische Verantwortung und die Wissenschaft ernst nimmt, kann davor nicht die Augen verschließen. Zu den Fragen, die wir jetzt zwischen Bund und Ländern diskutieren müssen, gehört etwa der Neustart der Impfkampagne oder die rechtlichen Grundlagen für Maskenpflicht, Testpflichten und weitere Schutzmaßnahmen.
Muss das noch vor der parlamentarischen Sommerpause geschehen? HASSELMANN Die Pandemie ist nicht vorbei, das sehen wir doch jetzt schon. Wir müssen jetzt die Grundlagen für den Pandemieschutz im Herbst legen, sonst steuern wir dann erneut auf eine chaotische Situation zu. Das kann niemand wollen. Wir sollten die Sommerzeit dafür nutzen, dass Bund und Länder gemeinsame Eckpunkte beschließen, wie wir im Herbst auf eine mögliche neue Corona-Welle reagieren. Wir brauchen eine rechtliche Grundlage dafür, wie die Länder reagieren können, denn am 23. September läuft das Infektionsschutzgesetz aus. Was nicht passieren darf, ist, dass wir am Ende wieder Schließungen und teure Lockdowns bekommen, weil die Politik nicht vorausschauend agiert hat.