Bittere Wahlschlappe für Macron
Das Lager des französischen Präsidenten hat bei den Parlamentswahlen rund 100 Sitze verloren.
PARIS „Wir haben schon bessere Wahlabende erlebt“, sagte Olivia Grégoire um kurz nach 20 Uhr mit finsterer Miene. Die Regierungssprecherin musste als Erste im Fernsehen das politische Erdbeben kommentieren, das sich am Sonntag für Emmanuel Macron ereignete. Dass der Präsident Federn lassen würde, war bereits nach dem schlechten Ergebnis seines Mitte-Bündnisses in der ersten Wahlrunde klar. Dass er aber in der zweiten Runde der Parlamentswahlen so stark einbrechen würde, hatte kaum jemand erwartet. Sein Parteienbündnis Ensemble verlor mehr als 120 Sitze und stellt laut dem Meinungsforschungsinstitut Ipsos nur noch 224 Abgeordnete. Die absolute Mehrheit, die bei 289 Sitzen liegt, verfehlte Macrons Lager damit deutlich.
Den zweitgrößten Block in der Nationalversammlung bildet das Linksbündnis Nupes, das mit mindestens 149 Sitzen vertreten sein wird. Der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon hatte die Allianz Anfang Mai aus Kommunisten, Sozialisten, Grünen und seiner La France Insoumise (Unbeugsames Frankreich LFI) zusammengezimmert. Der neue Block erlaubte es sowohl Grünen als auch Sozialisten, mit jeweils mehr als 20 Abgeordneten ins neue Parlament einzuziehen. LFI kam auf 86 Sitze, was für die Partei eher eine Enttäuschung war. Vor allem, weil die Linkspartei damit hinter dem rechtspopulistischen Rassemblement National (RN) liegt, der auf 89 Sitze kommt und damit sein historisch bestes Ergebnis erzielt.
Bisher war RN nur mit sechs Abgeordneten vertreten, darunter Marine Le Pen, die in ihrem nordfranzösischenWahlkreis Henin-Beaumont mit 61 Prozent wiedergewählt wurde. „Wir werden eine entschiedene Opposition bilden“, kündigte sie euphorisch an. Macrons Partei Renaissance hatte sich geweigert, vor der Stichwahl eine Empfehlung gegen den rechtspopulistischen RN abzugeben und sich lediglich dafür ausgesprochen, von „Fall zu Fall“zu entscheiden. Nun unterlag Gesundheitsministerin Brigitte Bourguignon in ihrem Wahlkreis einer RN-Kandidatin. Der Präsident hatte vor der Wahl verfügt, dass Minister, die es nicht in die Nationalversammlung schaffen, aus der Regierung ausscheiden müssen.
Durch das Votum verliert Macron deshalb nicht nur Kabinettsmitglieder, sondern auch einige seiner engsten Vertrauten. Richard Ferrand, der bisher Präsident der Assemblée Nationale war, wurde in seinem Wahlkreis in der Bretagne von einer Kandidatin des Linksbündnisses entthront. Und Christophe Castaner, Fraktionschef in der Nationalversammlung, unterlag einem Nupes-Kandidaten.
Mit mehr als 60 Sitzen, die zur absoluten Mehrheit fehlen, muss
Macrons Parteienbündnis Ensemble vor allem mit den konservativen Républicains (LR) verhandeln, wenn es seine Projekte wie beispielsweise die Rentenreform durchbringen will. Experten sprechen bereits von einer Art Koalitionsabkommen nach deutschem Vorbild. Die Republikaner, deren Kandidatin Valérie Pécresse bei den Präsidentschaftswahlen nicht einmal fünf Prozent bekommen hatte, gewannen 78 Sitze. Ob sie tatsächlich mit dem Präsidenten zusammenarbeiten, wird sich schon im Juli zeigen, wenn erste Texte zur Kaufkraft und zum Klimaschutz in die Nationalversammlung kommen sollen. In jedem Fall dürfte Macron, der ohnehin viele LR-Politiker abgeworben hat, nach den Wahlen einen konservativen Akzent setzen. Wahrscheinlich wird er auch erneut die Regierung umbilden, die derzeit von der dem linken Macron-Lager angehörenden Élisabeth Borne geführt wird. Borne gewann zwar ihren Parlamentssitz im Calvados, dürfte aber angesichts des Wahldebakels nicht im Amt bleiben.
Die Wahlbeteiligung am Sonntag war mit 46 Prozent noch niedriger als in der ersten Wahlrunde am vergangenen Sonntag. Unter den 18bis 24-Jährigen blieben mehr als 70 Prozent zu Hause. Soziologen sprechen bereits von einer „Generation Wahlenthaltung“, die wohl auch später nicht mehr an die Urnen zurückzuholen ist.