Größter Streik seit 30 Jahren
Rund 40.000 britische Eisenbahner sind in den Ausstand getreten. In London geht nichts mehr, landesweit fährt nur jeder fünfte Zug. Der Gewerkschaftschef kündigt an, dass die Streiks noch monatelang anhalten könnten.
LONDON Am Dienstag begann ein Streik in Großbritannien, der das Land in dieser Woche lahmzulegen droht. Im größten Eisenbahnerstreik seit einer Generation traten rund 40.000 Mitglieder der Gewerkschaft Rail, Maritime and Transport (RMT) landesweit in den Ausstand, während in London 10.000 Mitarbeiter der U-Bahn streikten. Damit lief in der Hauptstadt gar nichts mehr, und auch im Rest des Königreichs konnte nur ein Fünftel der üblichen 20.000 Züge fahren. Weitere Streiks sind für Donnerstag und Samstag geplant, womit auf die Briten ausgedehnte schwere Verkehrsstörungen zukommen.
Am Montagabend waren die Tarifverhandlungen ergebnislos abgebrochen worden. Drei Prozent mehr Lohn hatte der Arbeitgeber Network Rail zum Schluss angeboten, vier Prozentpunkte weniger, als die RMT gefordert hatte. Damit lag die Gewerkschaft unter der Inflationsrate, die zurzeit neun Prozent beträgt, aber bis Ende des Jahres auf elf Prozent steigen soll.
Gewerkschaftschef Mick Lynch bat am Dienstagmorgen um Entschuldigung für die Schwierigkeiten, die der Streik allen jenen bereitet, die in dieser Woche versuchen, zu ihrem Arbeitsplatz zu kommen. Der Generalsekretär machte die Regierung für das Scheitern der Tarifverhandlungen verantwortlich – weil sie sich geweigert hatte, daran teilzunehmen. Tatsächlich hatte Verkehrsminister Grant Shapps eine Beteiligung an den Gesprächen abgelehnt. Das sei Sache des Arbeitgebers Network Rail, hatte er gesagt. Doch die Industrie hat keinen finanziellen Spielraum, um der Gewerkschaft entgegenzukommen, da sie die dafür nötigen Finanzen von der Regierung erhalten müsste. Die Lockdowns während der CoronaPandemie hatten schwere Auswirkungen auf den Bahnverkehr; der Staat musste mit Subventionen von 16 Milliarden Pfund aushelfen.
Premierminister Boris Johnson rief Arbeitnehmer am Dienstag zu Mäßigung auf. Wenn die Inflation durch höhere Löhne angeheizt würde, „hätte das langfristig einen viel größeren Einfluss auf Gehälter, würde Sparguthaben zerstören und die Schwierigkeiten, denen wir ausgesetzt sind, verlängern“. RMTChef Mick Lynch hielt dagegen. „Jeder Arbeitnehmer in Großbritannien verdient eine Lohnerhöhung, die die Krise der Lebenshaltungskosten widerspiegelt. Unsere Kampagne wird so lange dauern wie nötig, bis wir eine akzeptable Einigung erzielen“, sagte er und kündigte an, dass die Streiks für Monate weitergehen könnten.
Der Regierung von Premier Johnson kommt die scharfe Rhetorik des als militant geltenden Gewerkschaftschefs durchaus recht. Boris Johnson, der vor Kurzem ein fraktionsinternes Misstrauensvotum knapp überstand, kann jetzt mit seiner harten Haltung gegenüber den Streiks auf die uneingeschränkte Unterstützung in der Konservativen Partei zählen.
Für Labour ist das Thema heikel. Parteichef Keir Starmer hat sich weder für noch gegen den Ausstand ausgesprochen. Der Streik sollte gar nicht erst stattfinden, ist seine Position, weil die Regierung einen Deal in den Verhandlungen zwischen RMT und Network Rail hätte ermöglichen müssen. Von Parteigenossen wird ihm Zaudern vorgeworfen.