Van Gaal zieht alle in seinen Bann
Der Bondscoach will mit Oranje bei der WM triumphieren. Auch eine Krebserkrankung hält den 70-Jährigen nicht auf. Mit seinem Hochmut fasziniert er das Königreich.
AMSTERDAM Für Journalisten ist Louis van Gaal ein Genuss. Der Fußballlehrer ist nie um eine markige Antwort verlegen. Die Regierungsbildung? Der Vertrauensverlust in Amtsträger? Sportwettbewerbe in diktatorischen Golfstaaten? Der 70-Jährige hat immer eine Meinung. Und er will sie unbedingt mitteilen. Je größer das Publikum, desto besser. Pressekonferenzen mit dem Nationalcoach der Niederlande gleichen einer Schulstunde. Louis van Gaal erklärt die Welt.
Der Fußballlehrer, der von 2009 bis 2011 als Tulpengeneral in die Geschichte des FC Bayern München einging, ist mit seiner letzten großen Mission beschäftigt: der WMSieg in Katar.
Louis van Gaal soll gelingen, was Rinus Michels, Johan Cruyff und Bert van Marwijk verwehrt blieb. Und die Chancen stehen zumindest nicht dramatisch schlecht. Die Niederländer haben mitVerteidiger Virgil van Dijk (FC Liverpool), Regisseur Frenkie de Jong und Angreifer Memphis Depay (beide FC Barcelona) eine funktionierende Achse. Auch Matthijs de Ligt (Juventus Turin), Stefan de Vrij (Inter Mailand) oder Daley Blind (Ajax Amsterdam) genügen höchsten Ansprüchen. In der Nations League spazierte„Oranje“zuletzt durch die Gruppenphase, den ewigen Rivalen Belgien fertigte man sogar mit 4:1 ab. Von der Verunsicherung, die die Mannschaft unter Frank de Boer zeigte, ist nun keine Spur mehr.
Rund um die Nationalmannschaft herrscht im Nachbarland regelrecht Euphorie. Nicht nur, aber auch wegen Louis van Gaal. Mit seinem schier unerschöpflichen Selbstbewusstsein hält der Coach das Land in Atem. Vor einigen Wochen fand eine Dokumentation über den 70-Jährigen den Weg in die Kinos. Louis van Gaal war bei der Premiere begeistert. Vom Film, vor allem aber von sich selbst. Schließlich würde die Dokumentation ein wahrheitsgetreues Bild seiner Persönlichkeit vermitteln, so van Gaal. „Nicht von dem arroganten Arschloch, wie ich manchmal dargestellt werde. Es gibt auch einen Menschen hinter dem Coach und das sieht man.“Bislang aber enttäuscht der Streifen, die Kinosäle füllen sich nur selten für den General. Dafür ist der Protagonist selbst ein treuer Zuschauer. Schon mehrfach habe er die Doku gesehen. „Und mich keinen Moment gelangweilt“, so van Gaal.
Auch den Mut, große Fußballstars herauszufordern, hat der Bondscoach nicht verloren. Georginio Wijnaldum erhielt jüngst völlig überraschend keine Einladung zum Nationalteam. Der Grund: Zu selten würde der Mittelfeldspieler bei Paris Saint-Germain zum Einsatz kommen. „Ich muss die besten Spieler einladen, sonst scheitere ich. Die niederländische Nationalmannschaft ist kein Rehazentrum“, sagte van Gaal in Richtung Wijnaldum. Und das, obwohl der 31-Jährige zuletzt stets Leistungsträger und Lautsprecher der „Elftal“war. Seine Mitspieler erklärten, die Ausbootung nur schwer verstehen zu können. Doch Louis van Gaal blieb stoisch – und verfolgt damit wohl einen größeren Plan.
Schon 2013 hatte van Gaal während seiner zweiten AmtszeitWesley
Sneijder, damals Weltstar bei Inter Mailand, kaltgestellt. Der Bondscoach wollte, dass der Regisseur fitter wird – und forderte ihn mit der Ausbootung heraus. Der Erfolg gab ihm Recht. Im Jahr darauf hatte Wesley Sneijder maßgeblichen Anteil daran, dass die Niederlande das WMHalbfinale in Brasilien erreichte.
Aus dem Nichts kam jüngst auch die Nominierung von AngreiferVincent Janssen, der beim CF Monterrey in Mexiko kickt und vom Radar der niederländischen Fußball-Öffentlichkeit gänzlich verschwunden war. Und das nicht ohne Grund, den Torriecher scheint der Ex-Stürmer von AZ Alkmaar und Tottenham Hotspurs verloren zu haben. Doch Louis van Gaal nominierte Vincent Janssen nach fünf Jahren wieder fürs Nationalteam – und nicht etwa Luuk de Jong (FC Barcelona). Schließlich sei der 28-Jährige ein echter vanGaal-Angreifer. Und obwohl Janssen beim 3:2-Sieg gegen Wales wie ein Fremdkörper agierte, attestierte der Trainer ihm eine tolle Leistung.
Vor laufenden Kameras suchte Louis van Gaal seinen Schützling für ein Beurteilungsgespräch der besonderen Art auf. Der Tulpengeneral baute sich Zentimeter vor ihm auf, blickte ihn eindringlich an, um lauthals mitzuteilen: „Du hast alles gemacht, was ich wollte.“Ein Gespräch irgendwo im Grenzbereich zwischen Faszination und Fremdscham.
Doch van Gaal genießt die Aufmerksamkeit in vollen Zügen. Als er die WM-Vergabe an Katar im März als „lächerlich“bezeichnete, folgte eine diplomatische Krise. Und als im vergangenen Jahr die Koalitionsverhandlungen ins Stocken gerieten, empfahl der Ex-Coach vom FC Barcelona und Manchester United eine Minderheitsregierung. So löste er im politischen Den Haag über Tage hinweg hitzige Debatten aus.
Von kritischen Fragen über seine polarisierenden Meinungen und Entscheidungen hält Louis van Gaal jedoch nicht allzu viel. Bei Pressekonferenzen und in Interviews gerät er immer wieder in Konflikt mit Journalisten. Wer nicht seiner Meinung ist, habe eben keine Vision, so proklamiert er. Louis van Gaal gibt das Bild eines Fußballlehrers ab, der alles schon erlebt hat und auf dem Weg zu seinem letzten großen Triumph keinen Widerspruch duldet.
Im Frühjahr wurde bekannt, dass Louis van Gaal an einer aggressiven Form von Prostatakrebs erkrankt ist, mittlerweile hat er dutzende Bestrahlungen hinter sich gebracht. Er habe die Erkrankung lange geheim gehalten, um die Nationalmannschaft nicht zu beeinflussen, erklärte van Gaal. „Doch ich habe noch genug Energie, um alles zu managen“, so der Bondscoach. Und tatsächlich: Die Hybris des 70-Jährigen genügt weiterhin, um die Niederlande in den Bann zu ziehen.