Wovon das Ende der Pandemie abhängt
Für einen Corona-Abgesang ist es noch zu früh, sagen Experten. Doch der Optimismus überwiegt. Entscheidend ist ein spezieller Teil der Immunantwort.
BERLIN Ein bisschen ist es ja wie mit den Freunden und den Feinden:Wer einen solchen Sommer hat, braucht keinen Herbst mehr. Aber vielleicht wird dieser Herbst eine besonders unheilvolle Hausnummer. Niemand weiß das – so wie wir ja seit zwei Jahren wie mit verbundenen Augen durch die Welt tappen und von neuen Buchstaben im griechischen Alphabet überrascht werden.
Natürlich sprechen wir von der Corona-Pandemie. Der Virologe Hendrik Streeck hat unlängst die Metapher von den Sommer- und den Winterreifen gewählt, im Sommer werde alles gut, und im Winter müsse man wieder aufpassen, wie man durch die Kurve kommt. Dieser Vergleich ist hinfällig: Steigende Temperaturen und die Verlagerung des Lebens in die Öffentlichkeit haben keineswegs für weniger Infektionen gesorgt. Etliche Menschen erleben derzeit in ihrem Bekanntenkreis ungewöhnlich viele Einschläge.
Nun herrscht bei manchenVirologen die Lehrmeinung vor, dass eine solche Erkrankungswelle, die nicht zu steigenden Hospitalisierungszahlen führt, möglicherweise das beste ist, das einem derzeit passieren kann. Der Epidemiologe Klaus Stöhr sagte im ZDF, es gebe zwar eine Sommerwelle an Infektionen. Aber in den Kliniken gebe es dennoch keine Zunahme an Patienten, die Situation sei „so entspannt, wie man es nur hoffen konnte für den Sommer“. Stöhr gilt nicht als schrille Hupe in der Branche; soeben rückte er auf Vorschlag der CDU als Nachfolger von Christian Drosten in den nationalen Sachverständigenausschuss nach.
Es wäre wunderbar, wenn Stöhrs Rechnung aufginge. Aber leider fehlen uns zu ihrer Begleichung die Zahlen. Derzeit hat niemand einen präzisen Blick auf das reale Infektionsgeschehen in Deutschland, niemand kann zuverlässig sagen, wie viele Geimpfte, wie viele Infizierte, wie viele Doppelinfizierte es bereits gibt. Andererseits steigt die Zahl der Geimpften, die nach einer Durchbruchsinfektion als genesen und besonders geschützt gelten, mit jedem positiven Test. Ist da nicht doch langsam das Ende der Pandemie in Sicht?
Möglicherweise. Allerdings weiß es eben keiner, weil selbst Infizierte und Genesene nicht auf Dauer jene neutralisierenden Antikörper aufbauen, die ähnlich wie nach einer Masern-Impfung zu einer robusten, sogenannten sterilen Immunität führen. Und solange das Coronavirus weiterhin alle Tricks der Immunflucht nutzt, um sich einen Vorteil zu verschaffen, bleiben wir im Bereich der Prophezeiungen. Wir werden also weiterhin die Alarmglocken von Karl Lauterbach vernehmen, was nicht so schlimm ist, wie uns manche Abwiegler glauben machen wollen. Dass es Lauterbach noch nicht gelungen ist, eine repräsentative Kohorte von Menschen durch alle Gruppen und Altersklassen aufzustellen, die das Infektionsgeschehen präzise abbildet, wird ihm im Kernfach Epidemiologie eine miese Note auf seinem Jahrgangszeugnis bescheren.
Stöhr sagte unlängst, jeder Mensch werde sich unweigerlich mit Corona anstecken. Tatsächlich verstärkt die BA.5-Variante genau diese Tendenz. Aber sie wird nicht die letzte Mutante bleiben, viele werden ihr folgen. Sofern sie nur infektiöser werden, aber nicht gefährlicher, wird unser Immunsystem damit gut zurechtkommen, weil die T-Zell-Immunität stärker noch als Antikörper dabei hilft, eine Infektion einzudämmen, wenn sie bereits begonnen hat. Für den Schutz vor schwerer Erkrankung ist diese sogenannte zelluläre Immunität besonders wichtig. Zudem ist sie weniger anfällig für Mutationen des Virus. Ob eine Impfung diese wichtigen T-Zellen aktiviert, war bislang nur schwer messbar. Jetzt präsentieren Forscher aus NewYork eine neue Messmethode im Fachjournal „Nature Biotechnology“, die auch bereits in Europa zertifiziert ist. Sie könnte das liefern, was so dringend ersehnt wird: Daten.
Manches sortiert man derzeit ohnedies neu, oder es erscheint in anderem Licht. So gibt eine britische Studie Aufschluss darüber, dass es Spätfolgen einer Infektion im Sinne von Long Covid auch nach Influenza gab und gibt, wenn auch nicht derart ausgeprägt.
Wie sagte Jens Spahn: „Wir werden einander viel zu verzeihen haben.“Bevor wir Bilanz ziehen, werden wir indes noch viel zu lernen haben. Wenn eines Tages unterm Strich dabei herauskommt, dass es für das Wohl der Menschen egal ist, ob die Pandemie vorbei ist oder nicht, hätten wir viel gewonnen. Momentan stehen die Zeichen gut.